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Amira

Der Damm brach und die Dunkelheit wurde zu meinem Retter. Sie umhüllte mich mit ihren wohltuenden Armen und doch wusste ich, dass sie nicht beständig war. Aber jetzt war sie hier und verdrängte alle meine Gedanken und Erinnerungen. Nichts. Kein Gefühl. Kein Schwindel. Kein Schmerz. Alles weg. Ich wusste nicht, ob ich das geniessen sollte. Aber es war ja nichts, oder? Somit schmiegte ich mich in die Dunkelheit.
Selbst die Stimmen wurden verschluckt. Die Hektik verschwand.
Ab und zu drang ein Geräusch zu mir durch, aber die Dunkelheit blieb bei mir, da ich keinen Grund kannte, ihr zu entfliehen.

Irgendwann liess mich die Dunkelheit gehen, worauf Schlaf kam, gefolgt von Tränen. Plötzlich spürte ich die warme Hand von Rayhan, die mir durch die Haare fuhr. Ich schmiegte mich in seine Hand. Doch plötzlich war sie Weg. Wo ist mein Bruder?! Geh nicht weg! Bleib hier! Rayhan!
Da kam die Hand zurück. Sie nahm die meine und strich sanft über meinen Handrücken. Das hat Rayhan noch nie gemacht! Was ist hier anders?!

Langsam drang der Geruch von Pfefferminze zu mir hindurch. Ein Erinnerungsfetzen kam hoch.
Meine Mutter sass mir gegenüber im Schatten einiger Bäume. Wir waren zu Hause. Sie stickte eine wunderschöne Lillie in einen seidig schillernden Stoff. Die Nadel tauchte immer wieder in dem roten Stoff ab. Eine beruhigende Bewegung. "Das wird Erol bei der ersten Übergabe der göttlichen Zeichen tragen", erklärte mir meine Mutter. Sie stickte weiter, während ich fasziniert ihren Bewegungen folgte. "Du wirst auch einen bekommen, versprochen."

Das Versprechen wurde zwar gehalten, aber nicht von ihr. Sie starb, bevor es so weit war. Tod. Im Traum so surreal, doch das Erwachen kam. Tod ist das Wort, dass mich mit meiner Familie verband und das all die schmerzhaften Gefühle und die schrecklichen Erinnerungen mit sich zog. Immer wieder sah ich meine Mutter zunehmend langsamer Atmen und schliesslich erschlaffen. Ich sah erneut, wie sich ihre einzigartigen Augen der Welt für immer verschlossen. Ich erlebte wieder, wie mein Bruder in die Knie sank und sich sein Blut mit der festgetretenen Erde vermengte. Ich sah die Vorstellung immer wieder, wie Terken meinem Vater genussvoll die Kehle durchschnitt. Und jedes Mal spürte ich, wie mir das Herz in der Brust zersprang.

Ich wusste nicht, wie mir geschah, als ich einen Schmerz auf meiner Wange spürte und dadurch aus meinen Erinnerungen gerissen wurde. Ruckartig fuhr ich hoch und erblickte den Prinzen. Doch kaum hatte ich einen Atemzug Ruhe, erschienen mir die Bilder von dem Mann, den ich getötet hatte, vor meinem inneren Auge. Das war der Moment, in dem alles zu viel wurde und ich nichts mehr halten konnte. Die Tränen fanden alleine über meine Wangen. Wie viel Leid wird noch durch meine Hand angerichtet werden? Das Gefühl von innen heraus zu zerbrechen überwältigte mich.

Aber da war Wärme, die mich zusammen hielt. Ich lag Kians Armen und obwohl ich wusste, dass ich das nicht zulassen sollte, war ich zu schwach um etwas zu unternehmen. Deshalb gab ich mich der Umarmung hin, die mir Halt gab und mich bis ins Innerste erwärmte.

Kian hielt mich, bis ich mich beruhigt hatte. Ich fühlte mich wohl in seinen Armen, aber es war nicht das Gleiche wie bei Rayhan. Ihn konnte niemand ersetzen. Meine Tränen versiegten und ich merkte, wie mir leichte Röte ins Gesicht schoss. Ich sass hier und wurde von einem Prinzen umarmt. Peinlich berührt murmelte ich ein Danke und löste mich.

Unsicher wich ich seinem Blick aus. Ich spürte seine Fragen, aber ich hatte selbst einen wirren Kopf. Als hätte jemand meinen Kopf durchgeschüttelt, verdreht und dann wieder auf meine Schultern gesetzt.

"Beantworte mir nur eine Frage", hörte ich seine raue Stimme. "Wer ist Rayhan?"

Ich wusste, dass ich ihm diese Antwort schuldete. Nervös knetete ich meine Hände. Ich muss es nur schneller aussprechen als meine Erinnerungen sind.
Die Angst, dass mich die Erinnerungen wieder erschlagen würden, war gross, aber ich spürte mein Gewissen an mir nagen.

Ihre AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt