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Amira
Ich stand, wie immer, vor Yaver und dem Sonnenaufgang auf. Zum Einen konnte ich dann nicht mehr schlafen, und zum Andern führte ich immer heimlich ein Ritual für meinen Bruder und meinen Vater durch.

Wie jeden Morgen ging ich auf den kleinen Balkon hinaus und zündete die Gebetskerze an. Ich atmete erst die kühle und frische Morgenluft ein und genoss die wohltuende Stille der ganzen Stadt. 'Diese Zeit wird immer euch gehören, Rayhan, Vater!', flüsterte ich leise in die morgendliche Brise und lies meinen Tränen freien Lauf.

Dann kniete ich mich neben die Kerze und begann leise die Lieder zu singen und die Gebete zu murmeln, die meiner Familie sicher den Weg ins Reich der Toten zeigten. Ich werde dieses Ritual so lange jeden Morgen durchführen, bis ich die Kerze nicht mehr anzünden kann. In Zatren würde man eigentlich die ganze Zeit, bis die Kerze erloschen ist, für die verstorbene Person beten. Erst wenn sie von alleine erloschen ist, kann man sicher sein, dass der Verstorbene den Weg ins Totenreich sicher überwunden hat. Während dieser Trauerzeit, die meist 2 Tage dauert, dürfen die Trauernden nicht sprechen. Doch unter meinen Umständen war dies leider nicht möglich...

Als die Stadt langsam erwachte, begann ich, den Tisch für das Frühstück zu decken. Den ganzen Morgen war ich jedoch ständig angespannt und nervös. Immer hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich wurde langsam wahnsinnig. Ich musste hier weg.

Nach dem Frühstück, während ich die Küche fegte, war ich tief in Gedanken versunken. Ich dachte darüber nach, wie ich von hier verschwinden könnte, ohne dass es jemand mitbekommt, als plötzlich energisch geklopft wurde. Es war wieder kein Klopfmuster.

Sofort duckte ich mich und drückte mich, mit den Händen an meinen Dolchen, an die Wand. Nach einiger Zeit hörte ich Yaver die Treppe herunter schlurfen und die Türe öffnen.

'Bitte lass es niemand von Bedeutung sein! Yaver war immer ein guter Mensch...', flehte ich stumm.

Da hörte ich eine mir bekannte Stimme und verstand, dass es der Prinz war. Als Yaver mich rief, ging ich sofort zur Tür und versorgte die Pferde.

Als ich zurück ins Haupthaus kam, bemerkte ich die angespannte Stimmung und als Yaver mich Tee machen schickte, machte sich ein mulmiges Bauchgefühl bei mir breit. Ich wurde immer nervöser, denn die Männer hatten begonnen, nur noch gedämpft zu reden.

Endlich konnte ich den Tee servieren und nachsehen, ob alles in Ordnung war. Ich wollte gerade wieder in die Küche gehen, als mich Yaver zurückrief.

Die nächsten Minuten vergingen so schnell, dass ich selbst alles nicht mitbekommen hatte. Ich war vollkommen überrascht vom Angebot des Prinzen, doch nachdem ich ja sagte, schien mein Körper sich zu entspannen und mein Herz schneller zu schlagen.

Erst als ich mit meinen wenigen Sachen vor der Tür stand und ich mich von Yaver verabschiedete, wurde mir klar, zu was ich gerade zugestimmt hatte:
Durch mein Handeln geriet der Prinz in Gefahr, denn Terken wird sicher nicht vor der königlichen Familie Malems zurückschrecken.

Doch rückgängig konnte ich es auch nicht machen...

Nach einem längeren Ritt durch halb Malem kamen wir endlich zum Palast. Ich war noch nie dort, doch die Schönheit, der Glanz und die mächtige Präsenz, die vom Palast aus gingen, liessen mir den Atem stocken.

Der ganze Palastgarten war umgeben mit einer zwei-mannshohen Mauer. Als wir den Garten durchquerten, kamen all die grünen Bäume und Wiesen zum Vorschein. Von überall her schwebten betörende Blumendüfte und liessen mich wie zu Hause fühlen. Glücklich genoss ich das Gefühl, dass alles gut wäre und nichts passiert sei.

Ihre AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt