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Amira
"Du bist schuld!"
Die Stimme meines Vaters ertönte laut.

"Du bist an allem schuld! Erol ist besser als du, du mickriger Taugenichts!" , schallte es von überall.

"Vater, wo bist du?", flüstere ich ängstlich.

"Dort, wo du nie hinkommst!", antwortet die Stimme.

"Ich hätte den Thron besteigen können. Ich hätte alle retten können!", kreischte plötzlich die Stimme meines Bruder.

"Vater, Rayhan, was wollt ihr?!", fragte ich verzweifelt.

"Du bist nichts wert!" "Du kannst nichts!" "Du hast uns sterben lassen!" "Du gehörst nicht in unsere Familie!" "Du bist ein Schande!", riefen Stimmen von überall her.

Ich spürte Panik in mir. Mein Herz fing an bis zum Hals zu schlagen. Plötzlich spürte ich etwas Nasses meine Wange hinunterlaufen. Verwirrt versuchte ich mich zu orientieren.

Ich tauchte immer mehr von meiner Traumwelt auf. Langsam tastete ich um mich. Weiche Laken, viele Kissen, dicke Matratze, eigentlich perfekt um zu schlafen. Doch von was wurde ich geweckt?

Ich tastete nach meiner Wange. Sie war nass und salzig. Ich hatte geweint. Der Traum kam wieder hoch. Ich versuchte ihn zu verdrängen und stand schnell auf. Zu schnell. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen und es fühlte sich an, als würde eine wild gewordene Pferdeherde mit ihren Hufen auf meinem Kopf trampeln.

Ich blieb stocksteif sitzen. Von was hatte ich Kopfschmerzen? Ich grübelte. Was ist gestern passiert?
Plötzlich kam ein Schwall Erinnerungen: Das Training. Cyril. Seine Angriffe.

Es wurden immer mehr. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf. Was habe ich getan?! Sofort raste wieder der stechende Schmerz durch meinen Kopf. Ich stöhnte auf. Aus Schmerzen und Verzweiflung.

Ich zwang mich tief durch zu atmen, doch die Tränen kamen mir zuvor. Tränen des Verlustes, der Scham und des Schmerzes, seelisch und physisch. Ich sass am Bettrand und weinte. Ich liess es zu. Zumindest zu einem Teil.
Wie konnte ich nur? Ich bin eine Gefahr für alle. Ich sollte hier weg. Ich sollte verschwindeen.

Doch ich konnte nicht einfach so verschwinden. Ich brauchte einen Plan und für einen Plan brauchte ich Ruhe. Ich sah an mir runter. Ich trug noch die Burka. Ich stand vorsichtig auf und ging langsam zur Waschschüssel. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht. Dann zog ich mich aus. Ich hatte zu warm in meiner Burka und wegen dem Traum stark geschwitzt. Ich wusch meinen Körper notdürftig mit dem Wasser aus der Schüssel und suchte mir mein Nachthemd aus der Truhe unter meinem Bett. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass derjenige, der mich in mein Zimmer gebracht hatte, mich nicht auch noch umgezogen hatte. Sonst hätte ich sicher einiges zu erklären.

Das musst du sowieso! Oder welche Frau kann schon so gut kämpfen, dass zwei gut ausgebildete Männer sie nur mit einer Ablenkung besiegen können?!

Meine Gedanken schweiften wieder zum Kampf. Ich schämte mich. Ich hätte mich unter Kontrolle haben sollen!

Warte, wo sind meine Dolche?

Panisch stand ich auf. Zu schnell: in meinem Kopf regten sich wieder die Schmerzen. Ich taumelte zu meiner abgelgten Burka. Hektisch schüttelte ich sie aus, tastete sie ab, doch ich konnte sie nicht finden. Verzweifelt sah ich mich in dem Halbdunkel um. Ich drehte mich im Kreis, versuchte mich zu erinnern, wo sie sein könnten. Im Kampf hatten sie meine Hände nicht verlassen. Dort waren sie ein Teil von mir.

Aber wo sind sie dann? Verdammt!!!

Ich hatte meiner Mutter damals versprochen, dass ich auf sie aufpasse. Wie auch auf meinen Bruder und meine Familie.

Ihre AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt