Kapitel 6

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Meine Reaktion war eindeutig eine Kurzschlussreaktion: Ich sprang aus dem Wagen, schnappte mir einen ihrer Dolche und schleuderte ihn in die Richtung aus der der Pfeil gekommen war. Erst, als ich ihn geworfen hatte, erkannte ich wer den Pfeil abgeschossen hatte. Dort stand eine Person, sie hatte einen weiten mitternachts-violetten Mantel an und unter der Kapuze konnte man ein komplett bemaltes Gesicht erkennen. Schwarze Verschnörkelungen prangten um seine Augen, Zahlen und Buchstaben auf seinen Wangen und sogar seine Lippen waren von einem schwarzen Muster durchzogen. Dieses Muster fand sich auf seinen Armen wieder, die unter dem Mantel hervorschauten. In der Hand hielt er einen violetten Bogen, der verführerisch glitzerte.

Der Dolch flog durch die Luft, wie es eben der Pfeil getan hatte, und zu meinem Überraschen traf ich den Mann ebenfalls ins Herz. Doch er stand weiter wie angewurzelt dort, lies langsam seinen Bogen unter dem Mantel verschwinden und als er mit den Fingern eine Geste machte, verschwand Alecias Körper in violettem Rauch. Eine Geste später war auch der Mann verschwunden. Das einzige was er von sich übrig gelassen hatte, war der Dolch, der eigentlich in seinem Herzen stecken sollte. Dieser fiel nun klirrend auf den Boden. Ich brauchte einige Sekunden um zu realisieren, was gerade passiert war. Hinter mir waren Teean und Savio von ihren Pferden gesprungen und rannten nun zu der Stelle, wo Alecia gelegen hatte. Liora hatte einen hübsch verzierten, goldenen Speer gezückt und hielt ihn immer noch auf die Stelle gerichtet, wo der seltsame Mann erschienen und wieder verschwunden war. Auch Shaitan hielt seine Waffe, ein großes Langschwert, gezückt, doch musste es nun wieder wegstecken. Wie gelähmt ging ich langsam zu dem Dolch, den ich geworfen hatte. Bei jedem Schritt schmerzten meine Gliedmaßen als hätte eine unsichtbare Macht sie verflüssigt. Mein Herz raste und ich atmete schwer.

Den Dolch hielt ich kurz in der Hand, er war das einzige was zurückgelassen wurde. Wie konnte Alecia sich auflösen? Wer war dieser Mann? Und am wichtigsten – WARUM hatte er das getan? Ich hatte so viele Fragen, die ich wahrscheinlich nie beantwortet bekommen würde.

Die Stimmung war angespannt, als wir uns wieder in den Karren begaben. Myrca, die im Wagen geblieben war, war die Anspannung ins Gesicht geschrieben und sie griff wortlos nach der Decke, da es trotz der warmen Temperaturen irgendwie kalt war. Shaitan wollte etwas sagen und öffnete hin und wieder den Mund, aber es kam kein Laut über seine Lippen. Liora wusste ebenfalls nicht was sie sagen sollte und polierte daher ihren Speer, bis er glänzte. Teean's und Savio's Reaktion konnte ich nicht erkennen, da die beiden schnell wieder auf ihre Pferde gestiegen waren und diese weiter zur Eile antrieben. Mit doppelter Geschwindigkeit rasten wir weiter durch die Steppe, die ihren Zauber längst verloren hatte. Für mich war sie nur noch ein großes, vertrocknetes Feld voller Elend und ich wünschte mir so schnell wie möglich hier raus zu kommen. Ich überlegte ob es sinnvoll gewesen wäre, wenn wir dort geblieben wären – aber Alecia wäre wahrscheinlich nicht wieder gekommen. Niemand wusste was los war, die Stimmung war schlechter als an dem Tag, an dem mein Vater mich verstoßen hatte. Ich stützte meinen Kopf in die Hände, er fühlte sich an als würde er vor Fragen überquellen und ich fühlte mich, als wäre mir heiß und kalt zugleich. Ich hatte tausend Stimmen in meinem Kopf und jede davon schrie mir etwas anderes zu. Voller Trauer und dem schlechtesten Gefühl, das ich jemals gehabt hatte, schloss ich die Augen und wünschte mir, mich hätte der Pfeil getroffen.

Alles drehte sich um mich herum, Steine, gelbes Gras und der Wind, alles schien wie in einer endlosen Achterbahn an mir vorbei zu fliegen. Ich stand still, aber alles um mich herum kreiste wie verrückt. Ich konnte kaum alles erfassen, was ich sah. Der Wind wirbelte meine Haare herum und zerrte meine Arme auseinander. Ich fühlte mich ohne jegliche Kontrolle und wahnsinnig zerbrechlich, bis ich endlich meine Augen komplett aufmachen konnte und den Kopf zurück warf um in den Himmel zu sehen. Ich suchte mit den Augen nach Halt, doch sah über mir nur die Wolken, wie sie sich zu einem Gesicht formten. Es war eine Frau, ihre Haare bestanden aus Schleierwolken die sich im Wind ebenso bewegten wie meine. Sie nickte mir respektvoll zu und schloss dann die Augen, dann stoben die Wolken wieder auseinander und meine Augenlider fühlten sich schwerer an als Blei. Als ich sie vollständig geschlossen hatte, fiel ich in ein unendliches schwarzes Loch und wollte schreien, doch ich hatte keine Stimme.

Dawn - Königin der SchattenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt