Kapitel 6

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Das Gebäude sah von außen genauso aus wie man es sich vorstellt. Weißer Backstein und langweilige Holzfenster. Ich parkte meinen Audi davor, schnappte mir die Unterlagen und ging Richtung Eingang. Die große Doppeltüre war offen, weswegen ich einfach eintrat. Ich würde schon jemanden finden.
Schon am Eingang hörte ich etwas. Ziemlich leise, aber doch klar. Musik. Besser gesagt eine Gitarre und eine Stimme.

Ich folgte einfach meinem Gehör und lief los. Die Eingangshalle war riesig und bunt. Jede Menge Bilder an den Wänden zeugten von Leben und viele Türen erkannte ich links und rechts. In der Mitte führte eine breite Treppe nach oben. Und genau von da kamen die Geräusche.
Ich sah noch im Augenwinkel das Schild mit der Aufschrift 'Sekretariat', doch das war mir gerade egal. Ich wollte wissen, wer hier singt. Eventuell konnte ich das zu meinem Vorteil nutzen.
Alles andere konnte warten.

Zwei Stufen auf einmal nehmend rannte ich hoch. Die Stimme wurde immer lauter. Ich ging nach rechts und öffnete einfach die Türe, von der ich dachte, sie sei die richtige. Diese Stimme kam mir sehr bekannt vor.

Im ersten Moment war ich etwas perplex. Ich stand in einer Art Hörsaal. Viele Stühle reihten sich aneinander direkt vor mir. Alle Kinder saßen mit dem Rücken zu mir, lauschten den Klängen und sahen zu ihr.

Sie saß auf der kleinen Bühne auf einem Stuhl, die Gitarre auf dem Schoß und sang, als gäbe es kein morgen.
Selten hatte ich jemanden gehört, der mit so viel Gefühl sang wie sie. Außer mir früher, wie man mir sagte ..
Eine Gänsehaut überkam mich und ich schüttelte mich kurz.
Mein Blick war wie gebannt auf sie gerichtet. Ich konnte mich einfach nicht bewegen.

Als hätte sie meine Anwesenheit gespürt, hob sie plötzlich den Kopf und schaute direkt zu mir. Während des Singens breitete sich ein Lächeln auf ihren Lippen aus.
Dieses Lächeln berührte mich viel mehr, als es sollte. Ich sollte mich nicht so fühlen, wenn sie mich ansieht. Zu lange hatte ich gebraucht, mir diese Mauer aufzubauen und durfte nicht zulassen, dass sie das zerstörte.
Trotzdem konnte ich mich einfach nicht dagegen wehren, was ihre Stimme in mir auslöste. Sie war wirklich engelsgleich.

Es war wie Engelsmusik. So viel Gefühl, so weich.. Stopp! Genug Schnulzengelaber!
Leicht verwirrt setzte ich mich auf einen der wenigen freien Stühle ganz hinten und wartete auf das Ende dieses 'Konzertes'.
Anscheinend befand sich das komplette Waisenhaus hier.

Ganz am Rande saßen die Erwachsenen schauten, genau wie alle anderen Anwesenden im Saal, wie hypnotisiert nach vorne.
Der letzte Ton verklang und Emily holte erst mal tief Luft.
Sofort begannen alle Zuhörer zu applaudieren und jubeln. Das hatte sie auch mehr als verdient. Ihr Auftritt war perfekt. Sogar perfekter als mancher von meinen Künstlern.

Warum nur sträubte sie sich so gegen mich? Es könnte alles so einfach sein.

Kurz flammte in mir die Erinnerung an meinen allerersten Auftritt auf. Ich war gerade mal 16 Jahre alt und wurde gefragt, bei der jährlichen Feier unserer Schule zu singen. Mann, war ich nervös damals.
An diesem Tag befand sich die Presse auch dort sowie Mister Parker. Er war der Vater einer Mitschülerin und zufällig Chef einer Plattenfirma. Er hatte mich entdeckt und zum Star gemacht.

Und heute ist er mein Konkurrent.
Ich hatte mir aufgrund eines Vorfalls geschworen, nie wieder aufzutreten. Deswegen zog ich nun im Hintergrund die Fäden.

Mein Blick war immer noch auf Emily gerichtet, die sich gerade mit einigen Leuten unterhielt und augenscheinlich großes Lob bekam, da sie leicht rot wurde und zaghaft lächelte.
Gott, dieses Lächeln, diese Lippen, sie machte mich verrückt. Ich wollte diese Frau, mehr als alles andere.
Ohne weiter darüber nachzudenken ging ich direkt auf sie zu und hielt sie am Arm fest.
"Entschuldigung, aber ich muss Ihnen Ihren Star kurz entführen. Sind gleich wieder da. ", erklärte ich den verwirrt schauenden Leuten und zog Emily mit zur nächsten Türe, obwohl ich nicht wusste, was sich dahinter verbarg. Sie folgte mir ohne Wehr.
Der Raum dahinter entpuppte sich als Instrumentenlager. Anscheinend war das ein Musiksaal und hier wurden die Instrumente dafür verstaut.

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