losing grip

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(unmöglich)
Ich hole tief Luft, blinzle zwei, drei Mal, starre wieder in den Spiegel. Alles ist gleich, der Boden, das Bett, die Fenster.
Nur eins nicht.
Mein Spiegelbild ist nicht da.
Einfach nur nicht da.
(unmöglich)
Sekundenlang starre ich unbewegt das reflektierende Stück Glas vor mir an, das alles zeigt, nur nicht mich selbst. Auch nicht nachdem ich mir mehrfach die Augen gerieben, geblinzelt und hinter den Spiegel geguckt habe. Nichts. Nur ein ordinärer Spiegel. Anscheinend nichts Besonderes. Auch keine Anzeichen für die Ursache des Geräuschs von vorhin.
Auf einmal höre ich das bekannte Trampeln von Füßen auf den Treppenstufen die in meine Etage führen. Normalerweise rennt nur meine kleine Schwester so aufgeregt und laut die Treppen hoch, doch diesmal klingt es irgendwie lauter, wie von einer größeren oder schwereren Person, und ein bisschen dumpf. Als wäre es gar nicht wirklich hier, sondern würde gefiltert durch irgendetwas.
Während ich noch über das seltsame Geräusch nachdenke, wird die Tür im Spiegelzimmer mir gegenüber aufgestoßen.
„Was zur Hölle ist hier-", brüllt eine Stimme, die mir ziemlich bekannt vorkommt. Der Junge im Spiegel spricht so ähnlich, wie ich mich selbst manchmal auf Videos reden höre.
Er sieht genau so aus wie ich.
Steht genau so starr, verwirrt und überfordert da wie ich.
Aber an einer anderen Stelle im Raum.
Mit einer anderen Körperhaltung.
(das bin ich)
Die Tür hinter ihm ist offen, doch ich weiß, dass meine geschlossen ist.
Während ich mich plötzlich auf dem Boden meines Zimmers wiederfinde, beobachte ich bei ihm die gleiche Reaktion wie bei mir zuvor: blinzeln, Augen reiben, verwirrt ein paar nervöse Schritte herumlaufen.
(das ist doch einfach nur unmöglich)
Dann lacht er kurz auf. „Okay, wer auch immer das gemacht hat und wie, komm raus. War lustig, es hat mich echt verwirrt. Aber es reicht jetzt. Und ich würde gerne wissen wie du ein Spiegelbild von mir digitalisieren und in meinen Spiegel projizieren konntest. Sehr lustig.", sagt er laut und dreht sich mit in die Hüften gestemmte Händen im Raum herum, wobei er offensichtlich den Spiegel mit seinen Augen schnell überspringt, als würde es ihm irgendwie Angst machen. Was ich ganz gut nachvollziehen kann.
Mit einer Hand fasse ich hinter mich und tappe suchend auf dem Boden herum um die Flasche zu finden, die glücklicherweise nicht bei meinem entsetzten Fall umgekippt ist. Ich habe gehört, Rotweinflecken gehen ganz mies aus Stoff wieder raus, das wäre doch schade um den schönen Teppich. Sogar in Gedanken kann ich hören wie dieser Satz nur so vor Ironie trieft.

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