» Kapitel 05

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  »...you don't have to be alone, oh, oh, oh, I won't let you go.«, langsam aber sicher ließ ich die Hand, die ich auf meinen Brustkorb gepresst hatte, sinken und ließ die letzten Töne, welche aus meinem Mund herauskamen, ausklingen. Nachdem ich den gestrigen Abend alleine überstanden und den heutigen Vormittag mit Biegen und Brechen rum bekommen hatte, saß ich nun endlich wieder in der Bar, in der ich am Vortag die Zwillinge kennengelernt hatte. Wir brauchten nicht viele Worte, um uns auf die richtigen Lieder, die wir beim Jammen spielen wollten, zu einigen. Wir hatten so ziemlich den gleichen Geschmack und da Tom so gut wie jedes Lied auswendig oder nach kurzem Anhören auf meinem iPod auf seiner akustischen Gitarre, die übrigens wunderschön war, spielen konnte, nutzten wir den Nachmittag vollends aus. Die paar Gäste, die ab und an durch die Bar liefen, klatschten hier und da nach dem Ende eines Liedes und lobten uns für das Talent, das wir an den Tag brachten. Dass sie hier nicht nur mit einer Straßenmusikerin, sondern auch mit einem umjubelten Rockstar zu tun hatten, schien ihnen gar nicht aufzufallen. Oftmals steckten Tom und Bill ihre Köpfe zusammen und kicherten über etliche Besucher, die sie trotz der Tatsache, dass es sich herumgesprochen haben müsste, wer sich vor ihnen befand, wieder nicht erkannten.
Noch immer hatte ich meine Augen leicht geschlossen und den Kopf gesenkt, als Tom den Schlussakkord erklingen ließ und Bill die letzte Zeile des James Morrison Songs sang.
»I won't let you go, oh yeah.«, summte Bill. Total in meinen Gedanken vertieft spürte ich nicht, wie Bill seine Hand auf meinen Arm legte und mich grinsend und stolz darüber, wieder ein Lied fehlerfrei gesungen zu haben, ansah. Doch als kein Ton der Gitarre und kein Ton aus Bills Mund mehr zu hören war, wachte ich aus meiner Trance auf, schreckte hoch, spürte seine kalten, dünnen Finger auf meiner warmen Haut und zuckte unaufhörlich zusammen.
»Pack mich nicht an!«, sprang ich von meinem Barhocker, der mit einem lauten Rums nach hinten fiel und schlug Bill so fest gegen seine Schulter, dass er Anstalten machte, mitsamt seines Stuhls nach hinten zu kippen. Sofort legte Tom seine Gitarre auf die geräumige Sitzgelegenheit neben sich und stand auf.
»Lasst mich, ich...«, stotterte ich, hob abwehrend meine Arme und sammelte aufgrund meiner Kurzschlussreaktion meine Jacke und Tasche ein, um kurz darauf mit samt meinem Gitarrenkoffer aus der Bar zu stürmen. Dass ich zwei total verdutzte und überrumpelte Jungs sitzenließ, interessierte mich in diesem Moment nicht – Fakt war für mich einfach nur, dass er mich berührt, mich angefasst hatte und mit dieser Geste, während des Singens, fast schon eine brennende Spur hinterlassen hatte.
Als ich hörte, dass die Tür hinter mir ins Schloss gefallen und ich somit vollends von den Zwillingen getrennt war, blieb ich stehen und holte einmal tief Luft. Fassungslos über mich selbst raufte ich mir die Haare. Was hatte ich gerade nur getan? Ich hatte Bill wie eine Furie angefahren, ihn geschubst und war wie eine Kranke aus dem Laden geflüchtet. Er wusste zwar nicht, wieso ich auf plötzliche Berührungen von männlichen Wesen so reagierte und saß womöglich gerade kopfzerbrechend und völlig verzweifelt auf seinem Stuhl, doch die Geschichte, die dahinter steckt, ließ sich nun mal nicht bei einem kleinen Kennenlernen erklären. Ich wollte ohne jegliche Vergangenheit in dieses Leben starten und eine Beziehung zu den beiden Jungs aufbauen. Ich wollte kein Mitleid und keine Sorge in ihren Augen sehen, wie bei all den anderen Menschen, die jemals davon erfahren hatten. Sie sollten mich einfach nur als Tia kennenlernen, bei der die Vergangenheit keine Rolle spielte. Oder spielte die Vergangenheit eine viel zu große Rolle in meinem Leben, sodass man sie mit mir kennenlernen musste, bevor man mein Vertrauen bekam?
Seufzend lief ich den Gehweg hinunter und in Richtung Strand. Ich wollte die Ferne sehen, die unglaubliche Weite und den dazugehörigen Wind in meinem Gesicht, in meinen Haaren spüren. Verzweifelt darüber, dass die Vergangenheit mich wohl überall hin verfolgen würde, kletterte ich auf die hohe Mauer zwischen Sandstrand und Promenade, legte meinen Gitarrenkoffer neben mich und holte mein herzallerliebstes Instrument heraus. Es war eben mein ‚bester-Freund'- Ersatz.
»It's ok, I got lost on the way
but I'm a supergirl and supergirls don't cry.«, stimmte ich mitten in das Lied ein, welches ich immer spielte, sobald ich mit Dingen aus der Vergangenheit konfrontiert wurde, die nicht eine einzige Träne wert waren. Ich wollte nicht weinen, so schrecklich es auch war – ich wollte einfach dieses Supergirl sein, über das Rea sang. Einmal wollte ich es schaffen, alles hinter mir zu lassen. Die Luftlinie zwischen Deutschland und mir – Los Angeles – betrug mehr als 9.000 Kilometer, die Stunden, die ich in dem Flieger verbrachte, als ich hierher kam, fühlten sich nicht nur nach zehn Stunden an, sondern waren es auch, und die Dinge, die ich bei mir trug, waren auch nur auf das Notwendigste reduziert – wieso also musste ich mit nur einer Geste so sehr in meine Vergangenheit gerissen werden, dass ich mir neu Aufgebautes schon wieder kaputtmachte?
»...but I'm a supergirl and supergirls just fl-«, ich konnte den Text, gemischt mit meinen Gedanken, beinhaltet mit meiner eigenen Geschichte, nicht zu Ende singen, konnte die Melodie, welche den Soundtrack von meinem Leben darstellte und immer der Klang im Hintergrund war, nicht zu Ende spielen, da sich vier dünne Finger auf meine Saiten am Gitarrenhals legten und den Druck mit dem Daumen an der Halsrückseite verstärkten, sodass nur noch Töne herauskamen, die auf keinen Fall Musik darstellen sollten, geschweige denn konnten. Sofort zuckte ich zusammen und hob meinen Kopf, um dem Übeltäter in die Augen zu sehen.
»Tom, ich...«, fing ich an, wurde jedoch sofort durch sein Wegnehmen meiner Gitarre unterbrochen. Sorgsam legte er sie in den aufgeklappten Gitarrenkoffer neben mich und ließ sich auf der anderen Seite der Mauer nieder.
»Was war das gerade?«, flüsterte er schon fast stillschweigend und blickte hinaus aufs Wasser. Reflexartig zog ich meine Beine an meinen Oberkörper, umschlang ihn mit meinen Armen und bettete mein Kinn auf meine Knie. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, wollte ihm die Wahrheit verschweigen und fühlte mich auch noch in keinster Weise dazu bereit, sie ihm zu sagen. Doch trotzdem wusste ich, dass er nicht locker lassen würde. Ich knibbelte nervös an meinen Fingern, ließ meine eine Hand über die Fläche gleiten, die Bill vorhin berührt hatte und zuckte zusammen, als hätte es nicht nur seelische Spuren hinterlassen.
»Er kann mich nicht einfach anfassen.«, hauchte ich so leise, dass ich die Befürchtung hatte, meine Worte würden von dem Wind davongetragen werden.
»Wieso?«
Er hatte es verstanden. Hatte verstanden, was ich ihm gesagt hatte, aber noch lange nicht den Fakt, der hinter meiner Aussage steckte. Eigentlich hätte mir sofort auffallen müssen, dass sich jeder normale Mensch hätte denken können, was mir in der Vergangenheit passiert war, jedoch war ich in diesem Moment so sehr in meinem eigenen Körper, an die Tatsache der Berührung, gefesselt, dass ich nicht ausbrechen und somit wieder irgendein Stück Realität oder Logik hätte sehen können. Ich sah nur die Narben, die ein kleines Stück weiter aufgerissen wurden.
»Ich will nicht drüber reden, ich...können wir uns wann anders drüber unterhalten?«, quetschte ich zwischen meinen trockenen Lippen hervor und wandte meinen Blick zu Tom.
»Okay.«, nickte er und musterte mich durchdringlich, bevor er seufzte. »Darf ich?«, er streckte leicht seinen Arm aus und deutete auf meine Schulter.
»Ja.«, lächelte ich leicht und lehnte mich in seine leichte Umarmung. Seinen Arm auf meiner Schulter liegend, saßen wir da, sahen in die Ferne und akzeptieren den jeweils anderen in seinem Sein so, wie er neben uns saß. Ich ließ es geschehen, fand es nicht schlimm, dass er mich berührte, weil die Berührung nicht urplötzlich auftauchte und ich wusste, dass seine Haut meinen Körper berührte.
»Bill ist schon vor zu unserem Haus gefahren. Magst du nicht mitkommen? Wir könnten zusammen kochen oder einfach nur rumsitzen und...quatschen oder schweigen. Dann wärst du auch nicht so alleine. Ich meine, es ist gerade mal halb sieben und du bist in einer fremden Stadt.«, sabbelte Tom, als ginge es um Zeit, während ich noch immer an seiner Schulter lehnte und mir ein kleines Grinsen verkneifen musste. Ohne darüber nachzudenken, was auf mich zukommen könnte, sprang ich von der Mauer, schloss meinen Gitarrenkoffer, schulterte meine Tasche und sah Tom gegen die Sonne blinzelnd an. »Gern.«
Ich wusste, dass es mir gut tun würde. Zwar würde ich auf Bill treffen und die ersten paar Minuten würde mit Sicherheit eine seltsame Stimmung zwischen uns liegen, doch vor diesem Punkt konnte ich nicht ewig weglaufen. Außerdem war ich mir sicher, dass er sich mit der gleichen Erklärung zufrieden geben würde, wie Tom auch. Ich hatte es im Gefühl, wusste, dass er nicht sauer sein würde und ging mit gutem Gefühl und einem lächelnden Gitarristen neben mir in Richtung Auto, um zum Zuhause der Zwillinge zu fahren.  

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