»Lasst uns anstoßen! Ihr wart wirklich so super!«, die Türen des Clubs waren längst geschlossen und unser Auftritt schon vor wenigen Stunden beendet. Wir waren gerade in die Villa der Jungs zurück gekehrt, doch auch hier konnte John den Job als Barkeeper nicht lassen. Schnell drückte er jedem von uns dreien ein Glas Sekt in die Hand, drückte mir einen Kuss auf die Wange und schlug mit den Zwillingen ein.
»Danke.«, verlegen hob auch ich mein Glas und prostete den anderen zu, ehe ich einen Schluck von dem süß prickelnden Getränk nahm. Grinsend blickte Bill zu mir herüber, auch noch immer völlig übermannt von dem Gefühl einen wirklich brillanten Auftritt hingelegt zu haben, und legte einen Arm um meine Hüfte.
»Es war so eine schöne Erfahrung mit dir da oben zu stehen und für einen Moment das Gefühl zu haben, Musik machen zu können, ohne dass man mit Tokio Hotel in Verbindung gebracht wird. Das hat irgendwie gefehlt.«, gab Tom zu und lächelte mich glücklich an. Seine Worte trafen mich, weswegen ich für einen Moment in meinen Bewegungen innehielt.
»Das hast du schön gesagt, danke.«, lächelte ich zurück und überbrückte die kleine Distanz zwischen uns, um ihn für einen kurzen Moment in meine Arme zu ziehen. Ich konnte kaum beschreiben, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Wirre Gefühle, die eigentlich nicht klarer und schöner hätten sein können, durchströmten meinen Körper und füllten ihn mit so viel Adrenalin, dass ich das Gefühl hatte, heute gar nicht mehr zur Ruhe zu kommen.
»Leute, ich muss mich verabschieden.«, riss Johns Stimme mich nach einigen Sekunden der Gedanken zurück in die Realität und stellte sein Glas hinter sich auf den Terrassentisch. »Ich behalte euch im Kopf wenn es um Auftritte geht. Vor allem dich, Tia.«, er zwinkerter mir grinsend zu und fing sich einen empörten Ausruf der beiden Jungs neben mir ein.
»Gerne.«, lachte ich – für die Jungs noch einmal extra provokant – und nippte noch einmal an meinem Getränk.
»Macht es gut, Leute. Wir sehen uns sicherlich.«, verabschiedete er sich daraufhin jedoch so schnell, dass ich das Gefühl hatte, es mit David zu tun zu haben.
»Irgendwie verabschiedet er sich genauso plötzlich und schnell wie David immer.«, bemerkte ich, als uns nicht einmal mehr gegönnt war, John richtig zu verabschieden, sondern nur noch den startenden Motor seines Autos wahrzunehmen.
»Scheint eine Krankheit in ihrer Freundschaft zu sein. Haben sie sich sicher voneinander abgeguckt.«, gab Bill nur beiläufig von sich, ehe er den restlichen Sekt in seinen Mund kippte, sich angewidert schüttelte, und eine Flasche Bier aus einer Kiste nahm, die immer draußen auf der Terrasse stand.
»Ich glaube, ich werde mich langsam mal ins Bett begeben. Ich habe morgen Großes vor.«, teilte Tom uns mit, als Bill sich gerade auf einem der Stühle niederließ und sein Bein angewinkelt über sein Knie warf.
»Was hast du vor?«, hakte ich neugierig nach. »Willst du uns endlich deine Auserwählte vorstellen?«, grinste ich und schielte zu Bill herüber. Auch er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und zwinkerte mir verräterisch zu.
»Eventuell. Aber nur, wenn ihr brav seid.«, mit dem selbstsichereren Grinsen auf den Lippen, welches man als Mitmensch von Tom nur allzu gut kannte, machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand binnen weniger Sekunden im Inneren der Villa und hinterließ Bill und mich mit großen Augen.
»Da bin ich ja mal gespannt.«, gab Letzterer nur überrascht von sich und nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche. »Ist es okay, wenn ich hoch gehe? Ich bin wirklich platt.«
»Klar. Ich würde noch bleiben und alles sacken lassen.«, lächelte ich ihn an. Das Gefühl, er könnte ein schlechtes Gewissen haben, weil er mich alleine hier unten sitzen ließ, beschlich mich. Doch das brauchte er nicht zu haben. Ich wusste, wie ich den Abend beenden würde.
»Wenn was ist – du weißt, wo du mich findest. Gute Nacht.«, er ging an meinem Stuhl vorbei, bückte sich einige Zentimeter zu mir herunter und drückte mir einen Kuss auf mein Haar.
»Schlaf gut.«, lächelte ich und sah ihm so lange hinterher, bis ich mir sicher war, dass er wirklich in der oberen Etage des Hauses angekommen und ein Zurückkommen unwahrscheinlich war.
Mit einem glücklichen Seufzen zog ich meinen Gitarrenkoffer, den ich zuvor hier draußen abgestellt hatte, zu mir heran, klappte ihn auf, hob meine Gitarre hoch und nahm mein Songbuch heraus. Stolz darüber, dass ich Besitzerin eines solch wertvollen Gegenstandes war, lächelte ich und blätterte zur ersten unbeschriebenen Seite, die weit über der Hälfte des Buches lag. Nicht nur Ideen für Songs schmückten die Seiten, auch Gedanken über Eindrücke, die ich in der Zeit als Straßenmusikerin sammeln durfte, standen auf etlichen Seiten. Und jetzt sollten meine Eindrücke von meinem neuen Leben festgehalten werden. Ich wollte noch in Jahren darin erinnert werden, wie meine Geschichte sich gedreht und gewendet hatte und wie glücklich in diesem Moment war.
23.09.2012 - 01:45 Uhr - Los Angeles
Ein bekannter Musiker würde jetzt sagen, dass es womöglich unfucking fassbar ist, was ich hier gerade erleben darf. Zwar ist es auch so, aber ich möchte ihm ungern die Worte aus dem Mund klauen. Es ist unfassbar – bleib ich bei der etwas spießigen Variante. Ich kann kaum beschreiben, wie ich mich fühle, doch trotzdem will ich es irgendwie versuchen.
Ich bin angekommen. Wirklich angekommen. Ich glaube, ich habe mich – abgesehen von meiner Kindheit, wo noch alles Friede, Freude, Eierkuchen war – noch nie so Zuhause gefühlt, wie hier in Los Angeles bei den beiden Jungs. Es sind mittlerweile zweieinhalb Wochen vergangen, als ich den ersten Schritt auf Kalifornischem Boden gegangen bin, und ich habe das Gefühl in diesen Tagen das erste Mal etwas Schönes erlebt zu haben. Von der unglaublichen Begegnung mit David Jost – Produzent und Manager bei dem großen Plattenunternehmen Universal -, seinem unglaublichen Angebot, bei seinem Kumpel im Club zu spielen, bis hin zu einem Auftritt und den Lobeshymnen von den Jungs von einer bekannten deutschsprachigen Band. Tokio Hotel.
Ich weiß selbst nicht, wie ich das alles verarbeitet habe, aber ich habe es verdammt gut weggesteckt. Die Jungs waren anscheinend ziemlich begeistert von mir und wir verstanden uns auf Anhieb super (Ich wohne mittlerweile sogar bei ihnen, aber dazu später!). Anfangs hatte ich ein kleines Problem mit Bill, weil mich seine plötzliche Berührung beim Singen ziemlich überrumpelt hat, aber dank seinem Bruder, der mich schon nahezu zwang, mich mit Bill konfrontieren zu dürfen, wurde die Berührung, die zuvor noch mein Verhängnis war, zu meinem Glück. Bill war wirklich super aufgeschlossen, zwang mich zu keiner Erklärung – und gewann in diesem Moment ein Stückchen mehr mein Herz. Ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte – irgendetwas in mir sagte mir genau das – und genau das tat ich dann auch. Ich erzählte ihm, warum ich so empfindsam auf jegliche Berührungen reagierte, und er war wirklich ein guter Zuhörer. Ich habe noch keinem meine Geschichte erzählt und zu der Zeit tat ich es nach wenigen Tagen des Kennenlernens. Irgendwie absurd, gerade weil ich doch so bittere Enttäuschungen erlebt hatte. Irgendetwas hat er, was mich verzaubert, was mich dazu bringt, ihm zu vertrauen. Und irgendetwas sagt mir, dass es genau das richtige ist. Ich habe keine Angst, enttäuscht zu werden. Und wenn, dann vielleicht wirklich nur ein klitzekleines bisschen.
Jedenfalls hat Bill beschlossen, dass ich bei ihnen einziehen soll. Er hat mich eigentlich total damit überrumpelt, aber ich hatte gar keine andere Wahl als zuzustimmen, da er schon drauf und dran war, meine Sachen herzuholen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich hier wohne und nicht einmal zum Einkauf oder sonstigen Dingen beitragen kann, weil mir einfach das Geld fehlt. Bill sagt immer, ich solle mir bloß keine Sorgen drum machen, weil er doch genug Geld habe, aber irgendwie wollen mich die Gedanken nicht loslassen.
Ich hoffe, das legt sich irgendwann. Und ich hoffe, ich kann es ihnen irgendwann wieder zurückgeben.
Heute hatten wir zu dritt ein Konzert bei John – Davids Freund – und es hat sich einfach so gut angefühlt. Es war eine völlig neue Erfahrung mit den Jungs zusammen auf der Bühne zu stehen und mit Bill im Duett singen zu dürfen. Wenn ich ehrlich bin, hatte ich die ganze Zeit eine Gänsehaut und hätte jeden Moment vor Rührung weinen können. Ich war so voller Glück. Als würde ich alles Glück auf einmal zu spüren bekommen, das ich in meinem ganzen Leben nicht spüren durfte und konnte.
Ich wollte versuchen zu beschreiben, wie es mir geht, aber irgendwie kann ich es nicht. Würde ich sagen, dass ich gerade das größte Glück der Welt verspüre, kann sich keiner vorstellen, wie groß das Glück aus meiner Sicht ist. Ich glaube das, was ich hier fühle, ist dafür gemacht, unbeschreiblich zu sein.
Ich weiß, dass ich angekommen bin und alles, was ich in Deutschland lassen wollte, in Deutschland gelassen habe. Ich weiß, dass ich aus den Dingen in Deutschland gelernt habe. Und ich weiß, dass ich nie wieder dorthin zurückkehren würde. Nicht für immer. Schließlich war ich auch nicht mehr dieses Mädchen, welches ich vor der Abreise war. Ich sehe alles mit anderen Augen, habe gelernt abzuschließen, mit etwas umzugehen und Neues zuzulassen. Ich bin eine neue Tia. Eine Tia, die jeder, der mich meint zu kennen, nicht akzeptieren würde. Keiner würde mich wahrnehmen, alle würden mich für eine Illusion halten.
Seufzend drückte ich auf das Ende meines Kugelschreibers, die Miene zog sich mit einem Klicken zurück in das Plastikgehäuse. Zufrieden klemmte ich den Stift an das zugeklappte Buch, verstaute es wieder in meinem Gitarrenkoffer und leerte mein Sektglas, während ich die Terrassentür hinter mir zuzog. Die Müdigkeit hing in jedem Knochen und ich war froh, dass mein Bett nicht allzu weit entfernt war.
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Golden State - Wo du leben und lieben lernst
Fanfiction»Ich weiß, dass ich angekommen bin und alles, was ich in Deutschland lassen wollte, in Deutschland gelassen habe. Ich weiß, dass ich aus den Dingen in Deutschland gelernt habe. Und ich weiß, dass ich nie wieder dorthin zurückkehren würde. Nicht für...