Für diesen Spruch erntete Heiko Gejohle und Gelächter und die Fans drängten sich um ihn. Von hinten war kein Durchkommen. Auch nicht für eine unscheinbare junge Frau, die in einem unförmigen schwarten Rock, Strumpfhose und rosa Crocks einen Rollstuhl vor sich her schon, in dem ein Mädchen mit Tiegerbrille saß, das eine dicke bunte Mütze trug. Jessy hatte sich ungefähr drei Stunden für ihren Auftritt als graue Maus zurecht gemacht und dafür ihren und Bellas halben Kleiderschrank auf dem Boden verteilt. Aber es hatte auch gelohnt. Jessy war kaum wiederzuerkennen uns sah mit ihrem grauen Pulli über der Bluse, den brav geflochtenen blonden Zöpfen und der Kette mit dem Kreuzanhänger einfach nur langweilig aus.
„Warum ausgerechnet DieLochis?", fragte Bella und drehte sich in den Rollstuhl zu Jessy um, die sie unsanft vor sich herschob.
„Oh, süß, verknallt? Will dich doch nur vor Schlimmeren bewahren, Sis. Dich wollen die eh nicht. Und da sind sie nicht die Einzigsten", höhnte Jessy.
„Einzigen", korrigierte Bella.
„Sch! Schön die Klappe halten, okay? Und guck behindert!", befahl Jessy.
„Was?" Bella blickte Jessy ungläubig an.
„Perfekt!", lobte Jessy
„Okay?" Bella hielt den Kopf schief.
„Klappe halten habe ich gesagt!", flüsterte Jessy und schon den Rollstuhl ohne Rücksicht durch die Menge, bis sie vorne an der improvisierten Bühne der Lochis ankamen.
Bella erkannte sofort Roman, der irgendwie merkwürdig blass war und sich die Hand vor den Mund hielt. Oh, nein! Er übergab sich! Ob er mit seinem Bruder vorher ein Video gemacht hat mit dem Battle: Wer kann am schnellsten einen Döner mit Nuss-Nugatsoße essen ? Bella beschloss, zu Hause gleich auf YouTube nach zu schauen.
Jessy erblickte Heiko, der Flyer verteilte und sich vorkam wie in einem der Wir-klären-auf-Videos von den Lochis: „Hast du 'ne Freundin?" -- „Lust auf Foto-Friendship?" -- „Magst du Bratwurst?", wollten die Mädels in einer Tour wissen.
„Und wie willst du jetzt deren Aufmerksamkeit kriegen?", fragte Bella.
„Klappe!", sagte Jessy und kippte kurzerhand den Rollstuhl nach vorne. WOMM! Bella lag ausgestreckt auf dem Kopfsteinpflaster.
„Nicht bewegen!", wischte Jessy und rief dann laut: „Oh Gott! Meine arme Schwester!"
Heiko bemerkte die arme Bella vor dem Rollstuhl auf dem Boden und ging sofort auf die beiden Schwestern zu.
„Sonst Facebook?", rief ihm eins der Mädchen hinterher und murmelte dann enttäuscht: „Fuck, so close!"
Während Heiko sich Jessy näherte, wurde sie von einem älteren Mann angesprochen: „Brauchst du Hilfe?"
„Verpiss dich!, wisperte Jessy.
Da der alte Mann nicht ging, wurde Jessy noch deutlicher: „Du sollst dich verpissen, hab ich gesagt!"
Dann rief sie wieder laut: „Hilfe! Hilfe!"
Und endlich war Heiko da und half Jessy, Bella zurück in den Rollstuhl zu hieven.
„Meine arme, arme Schwester!", säuselte Jessy theatralisch.
„Vielen Danke, äh ..."
„Heiko", sagte Heiko, fasziniert von Jessys blauen Augen.
„Jessy, angenehm", sagte Jessy.
„Und das ist meine Schwester ..."
„Bell ...", entfuhr es Bella, als sie von hinten einen Tritt an die Lehne bekam.
„Ja, Hundi, wuff, wuff!", machte Jessy schnell und lachte affig.
„Das ist ... Rolli!", stellte sie Bella vor.
„Rolli?", fragte Heiko.
„Ja, das ist mein ... Spitzname für sie. Das arme Ding kann uns ja nicht verstehen", behauptete Jessy und lächelte Heiko unglücklich an.
„Oh nein", meinte Heiko mitleidig.
MITLEID! Er hatte MITLEID! Es klappte! Jessy jubelte innerlich.
Äußerlich versuchte sie, sehr traurig auszusehen.
„Tragisch, ich weiß. Aber wenigstens ist sie noch am Leben. Meine Eltern und sie, sie waren im Auto und ..."
Jessy fächelte sich Luft zu und tat, als müsste sie ihre Tränen unterdrücken.
„Wie schrecklich!" Heiko war ehrlich bestürzt.
„Seitdem ... passe ich alleine auf sie auf. Tagein, tagaus ...", seufzte Jessy und versuchte trotz allem, ihre Brüste ein wenig hochzudrücken.
„Hast du nie Zeit für ... dich?", fragte Heiko, dem Jessys Brüste nicht entgangen waren.
Jessy schüttelte niedergeschlagen den Kopf.
„Aber es erfüllt mich total. Wenn ich sie lächeln sehe, dann weiß ich, dass sich die ganze Mühe lohnt."
Beeindruckt lächelte Heiko Jessy an.
„Na ja, dann noch mal: Vielen Dank!", meinte Jessy.
„Nicht dafür. War das Mindestens.", wehrte Heiko bescheiden ab.
„Wenn doch nur jeder so denken würde. Na ja, dann auf Wiedersehen, Heiko."
Jessy drehte sich mit dem Rollstuhl um.
„Tschüss, Jessy!"
Heiko sah Jessy und Bella unsicher hinterher. Irgendwie hatte ihm diese Jessy imponiert.
Jessy schon den Rollstuhl und zählte: „Einundzwanzig, zweiundzwanzig ..."
„Ach, Jessy?" Heiko gab sich einen Ruck.
„Jaaaa?" Jessy blieb stehen und dreht sich langsam um.
„Wenn, also, wenn du mal Zeit hast ... also, vielleicht können wir ja mal essen gehen, oder so?", fragte Heiko.
Jessy lächelte kurz und schüttelte dann den Kopf: „Bedaure, aber Rolli ..."
„Gar kein Problem! Mein Bruder passt sicher gerne auf sie auf!"
Heiko grinste begeistert über seinen Einfall.
Jessy riss erschrocken die Augen auf.
„Ach so, ja ... das ist doch nicht nötig. "
„Der macht das total gerne!", behauptet Heiko.
„Will echt niemanden zur Last fallen."
Jessy schob den Rollstuhl wieder an. Sie hatte sich zwar nichts mehr als ein Date mit Heiko gewünscht, aber bitte ohne einen Babysitter für ihre lästige Schwester.
„Gar kein Problem!", versuchte es Heiko weiter.
„Echt, ich kann sie auch einfach ... abstellen!", schlug Jessy vor.
Heiko runzelte die Stirn.
„Abstellen?"
Jessy zuckte mit den Schultern.
„Na ja, für so ein Stündchen oder zwei ... in einer Ecke, oder so. Das macht ihr total Spaß!"
Heiko blickte Jessy ungläubig an und winkte dann großzügig ab: „Ach! Jetzt sein nicht so bescheiden! Mein Bruder hat eine total soziale Ader!"
„Okay", lenkte Jessy ein.
„Vielen Dank."
„Gar kein Problem!"
Heiko strahlte Jessy und Bella an, die verwirrt Roman anstarrten, der offensichtlich fertig war. Mit den Nerven und mit dem Spucken.
Jessy war ebenfalls fertig mit den Nerven. Wütend schob sie Bella durch die Innenstadt. Als sie weit genug von den Lochis entfernt waren, grinste Bella dagegen: „Kriege ich jetzt Mamas Gitarre wieder?", fragte sie.
„Das ist nur deine Schuld! Wärst du nicht so behindert ... so überzeugend behindert!", schimpfte Jessy.
Bella drehte sich überrascht zu ihrer Schwester um.
„Meine Schuld? War doch klar, dass er denkt, dass jemand auf mich aufpassen muss, wenn du dich so rührend ..."
„Ja, ja, ja, bla, bla", unterbrach Jessy Bella genervt.
„Jetzt mach es nicht auch noch schlimmer. Musst du halt das nächste Mal ein paar Stunden still sitzen. Machst ja sonst auch nichts anderes."
„Aber", wollte sich Bella beschweren, doch Jessy fiel ihr erneut ins Wort: „Nichts aber! Du willst doch eine gute Sis sein und Mamas Gitarre wieder! Oder willst du mich, die letzte Familie, die du hast, verlieren und ins Heim ?"
„Nein, natürlich nicht", beeilte sich Bella zu sagen.
„Aber ..."
„Klappe halten, habe ich gesagt!"
Jessy schob Bella unsanft über einen Bordstein. Mit Bella hatte man einfach immer nur Probleme. Und überhaupt. Bella! Der Name war ja wohl ein Witz, fand Jessy. Bella war alles andere als eine Schönheit, warum hatten ihre Eltern nicht ihr diesen Namen gegeben ? Sie war die Beauty unter den Schwestern. Noch dazu kam, dass Bella in der Twilight-Saga diesen hammersexy Vampire abbekam. Jessy hatte es gegoogelt. Über sie hatte mal irgendwann vor hundert Jahren ein Typ namens Joshua Madison einen langweiligen Song über Postkarten geschrieben. Hallo? Postkarten? Wie out was das denn???
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BRUDER VOR LUDER
De TodoBUCH ZUM FILM! Auf YouTube sind Heiko und Roman bereits Stars - Jetzt wollen sie auch live auf der Bühne durchstarten. Aber Romans plötzliches Lampenfieber und Heikos neue Freundin drohen den Traum von der großen Musikkarriere zum Platzen zu bringen...