Kapitel 8

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Lily Luna Potter P. o. V.

Ich erbrach mit einem Würgen in die Kloschüssel. Wieder und wieder, bis nichts mehr in meinem Magen war und mich mich befreit fühlte. Befreit von meinem Frühstück. Erleichtert fuhr ich mir mit meiner Hand über den Mund und ließ mich erschöpft gegen die Tür der Kabine sinken. Dann vergrub ich plötzlich hemmungslos schluchzend den Kopf in den Händen. Seit knapp einem halben Jahr hatte ich keine Kontrolle mehr über mein Essverhalten und bekam regelmäßig Heißhungerattacken. Heute Morgen hatte ich ein ganzes Brötchen und eine Schüssel Schokopudding gegessen, obwohl ich doch eigentlich hatte abnehmen wollen! Tränen schossen mir in die Augen und ich drückte meine Hand gegen meinen schmerzenden Magen. Ich konnte mehrere Fettröllchen spüren und erneut steckte ich mir hysterisch den Finger in den Mund. Gott, ich hasste meinen Körper so sehr. Schniefend wischte ich mir über das Gesicht. Alles hatte in der Muggelschule angefangen, als Albus und James schon nach Hogwarts gingen und meine Eltern arbeiten mussten. Versteht mich bitte nicht falsch: Mum und Dad sind fabelhaft! Ohne sie ginge es mir wahrscheinlich viel schlechter, sie lieben mich aufrichtig und kümmern sich wann immer sie Zeit haben. Was leider aber nicht oft der Fall war. Mit zehn Jahren hatte ich in der öffentlichen Schule zu Hause in London keine Freunde gehabt, ich war stets nur das komische Mädchen mit den roten Haaren und der verrückten Familie gewesen. Die anderen Kinder hatten gewusst, dass etwas mit mir nicht stimmte und das hatte ihnen Angst gemacht. So läuft das nun einmal, was der Mensch nicht kennt, bereitet ihm Unbehagen. Nicht nur, dass ich keinen einzigen Freund gehabt hatte: Meine Mitschüler hatten recht schnell mitbekommen, dass ich gut klein zu kriegen war. Ja, mit acht oder neun Jahren war ich sehr lebensfroh und aufgeweckt gewesen, ich hatte genauso oft wie Albus gelächelt und genauso gern wie James Streiche gespielt. Aber das war Vergangenheit. Es hatte mit kleinen Sachen wie gemeinen Spitznamen und dem Wegnehmen des Pausenbrotes angefangen, doch lange hatte es nicht gedauert, bis meine Klassenkameraden fieser und kreativer geworden war. Natürlich hatte ich ihnen ordentlich die Meinung gesagt. Hatte geweint. Gefleht. Und? Hatte das Gordon Miller davon abgehalten, mich zu treten, als ich schon am Boden lag? Hatte Patricia Fathmore mir deshalb nicht ins Gesicht gespuckt? Hatte Mannie Winchester aus diesem Grund darauf verzichtet, mir die Arme auf dem Rücken festzuhalten und Gordon übermütig aufzufordern, mich zu küssen? Nein. Natürlich nicht. Viel schlimmer als das war der angeekelte Gesichtsausdruck und das verächtliche Schnauben von Gordon auf Mannies Frage gewesen. "Diese hässliche Schlampe würde ich nicht mal anfassen, wenn man mir Geld dafür geben würde. Hast du sie dir mal angesehen? So fett und schwabbelig, das ist ja widerlich!", hatte er laut gerufen und die Umstehenden hatten gelacht. In diesem Moment war ich einfach nur unglaublich erleichtert gewesen, dass Gordon mich nicht geküsst hatte. Aber später, zu Hause, hatte ich darüber ausführlich nachgedacht. Da Dad als Leiter der Aurorenzentrale immer viel zu tun hatte und Mum in ihrem neuen Job als Sportjournalistin beim Tagespropheten ständig Überstunden machen musste, waren meine Nachmittage stets einsam gewesen. Albus und James waren in Hogwarts, ich hatte sie so sehr beneidet. Für mich wirkte Hogwarts immer wie der Himmel, dort würde ich von all meinen Sorgen und Problemen erlöst sein, von Hogwarts versprach ich mir Heilung. In unserer riesigen Villa hatte ich viel Platz gehabt. Und Zeit. Zeit, um nachzudenken. Zeit, um mir den Kopf zu zerbrechen. Zeit, um mich schlecht zu fühlen. An diesem Tag war mir die rettende Erklärung gekommen. Es lag gar nicht an den anderen, es lag an mir! Gordon mobbte mich, weil ich zu fett war. Mary-Anne mit den blonden Locken und Scarlett mit den teuren Puppen kicherten über mich, weil ich nicht hübsch genug für sie war. Patricia mit den bunten Haargummis hänselte mich, weil meine Nase komisch wuchs. Mannie nannte mich "Pumuckl", weil ich rote Haare und einen viel zu dicken Bauch hatte. Das wusste ich jetzt und ich nahm mir ganz fest vor, es von nun an besser zu machen. Es ihnen Recht zu machen. Und ich wurde dünner. Und ich trug andere Klamotten. Und ich verhielt mich anders. Und ich zerbrach fast daran. Es half nichts, sie wollten einfach nicht damit aufhören, all diese fiesen Dinge zu sagen und mich zu verletzen. Es bereitete ihnen Spaß und ich erlangte eine neue Einsicht: Ich war noch immer nicht dünn genug. Ich aß nun fast gar nichts mehr und stellte irgendwann fest, dass ich magersüchtig war. Es machte mir nichts aus, ich fasste es als Bestätigung auf, wenn meine Verwandten mich kritisch musterten und sagten: "Iss mal besser etwas, du bist ja viel zu dünn!" Abends setzten Mum, die von der Schicht und ihrem blöden neuen Chef erschöpft war, und Dad, der als Auror ständig auf der Hut war, sich mit mir hin. Sie strichen mir liebevoll durch das rote Haar, das ich mittlerweile so sehr verabscheute, und fragten aufrichtig interessiert, wie man Tag gewesen sei. Sie waren tolle Eltern. Bitte, glaubt nicht, dass es an ihnen lag. Ich log jedes Mal und erzählte, dass Mary-Anne und Scarlett meine besten Freundinnen waren und wir in der Pause immer ganz viel lachten und Scarlett mir eine ihrer tollen Puppen ausgeborgt hatte und dass Mary-Anne mich zur Übernachtungsparty am nächsten Wochenende eingeladen wollte. Als ob. Das wünschte ich mir so sehr, aber nichts davon war wahr. Mum und Dad glaubten mir. Wieso auch nicht, ich konnte meine Gefühle sehr gut verstecken. Natürlich lag der Grund für meine Magersucht längst nicht mehr bei Gordon, der mich nicht hatte küssen wollen.Oh Merlin, nein, ich mochte Gordon ja eigentlich nicht mal! Es war mein ganzes Leben, mein ganzes Dasein, meine gesamte Existenz. Der verzweifelte Wunsch nach Freundschaft und Anerkennung. Als ich endlich nach Hogwarts kam, wurde für mich ein Traum wahr. Endlich hatte ich die großartige Möglichkeit, echte Freunde zu finden und ich selbst zu sein! Von wegen. Schon während meiner allerersten Zugfahrt mit dem Hogwarts Express erntete ich neugierige Blicke und wurde ständig gefragt, ob Harry Potter wirklich mein Vater sei. Ja, verdammt, ich war die Tochter von Harry James Potter, aber nein, ich war nicht so stark, wie alle Welt es von mir erwartete. Tut mir echt wahnsinnig Leid, dass ich nicht andauernd lustige Sprüche wie James reißen konnte oder so ehrgeizig war wie Albus. In mir sah jeder nur die Tochter von Harry Potter, aber niemand sah zwischen den dünnen Knochen Lily Luna Potter durchschimmern . . . "Wie bitte? Die Tochter von Potter spielt kein Quidditch?" . . . "Was soll das heißen, Harrys und Ginnys Kind ist nach Hufflepuff gekommen?" . . . Als ich Albus gefragt hatte, wie er mit dem Druck umging, hatte er nur leicht verwirrt mit den Schultern gezuckt: "Sei einfach du selbst, Lily. Glaub mir, die anderen werden dich so akzeptieren, wie du bist. Sie mich an: Ich bin nach Slytherin gekommen und habe trotzdem Freunde." Er hatte sowas von keine Ahnung. Wie auch? Albus war nicht in der Grundschule gemobbt worden, weil er damals in unserem alten Wohnort vor dem Umzug gemeinsam mit unserer Cousine Rose die Dorfschule besucht hatte. Sie waren zu zweit gewesen und hatten einander gehabt, während James zu Hause unterrichtet worden war, weil Mum damals noch die Zeit dafür gehabt hatte. Und meine aktuellen Freundinnen, das wusste ich, sahen in mir auch nur die berühmte Tochter von diesem Potter. Sie kannten mich nicht wirklich. Das hätte mich auch gewundert. Schließlich kannte ich mich selbst nicht mal.

Die Erinnerung an meine Kindheit hatte mich müde gemacht. Jetzt stand ich auf, klopfte mir den Staub von meinem Umhang und sah in den Spiegel. Ja, ich war schlank. Zu schlank. Mager. Magersüchtig. Meine blauen Augen hatten ihr Funkeln verloren, das einstig aufgeregte Strahlen war verschwunden. In diesem Moment ging die Badtür auf. Erst dachte ich, es wäre wieder die Maulende Myrthe, die ich vorhin schon weggescheucht hatte, aber es war meine älteste Cousine Victoire. Ohne es zu beabsichtigen erschien auf meinem Gesicht ein breites und ehrliches Lächeln. Victoire hatte ich schon immer sehr bewundert, weil sie so hübsch und selbstbewusst war. Eigentlich verehrte ich jede einzelne meiner vielen, schönen Cousinen, sie alle lagen mir am Herzen, doch Victoire war mit Abstand meine Liebste. Ich war die Jüngste in unserer Familie, alle erwarteten von mir, dass ich genauso werden würde, wie alle anderen Mädchen der Weasleys und Potters. Victoire war auch so freundlich und schlau, wie ich es gern wäre. Und ihr Freund, Teddy Lupin, war in Hufflepuff, genau wie ich. Victoire entdeckte mich an den Waschbecken und schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln: "Lily, was machst du denn hier?" Mit roten Wangen spielte ich nervös an dem Saum meiner Robe herum. "Ich musste nur kurz auf Toilette, und diese hier lag am nächsten. Myrthe ist ja eigentlich gar nicht so schlimm. Und du?" Sie grinste gequält. "Ach, weißt du, seit James und Fred in dem Schlafsaal einiger Slytherins so viele Kakerlaken versteckt haben, ist der Konkurrenzkampf noch schlimmer als sonst vor einem Quidditchspiel." Victoire fuhr sich durch das blonde Haar und seufzte. Ich wusste genau, was sie meinte und als Sucherin und Mannschaftskapitänin von Gryffindor war sie ein besonders beliebtes Angriffsziel. "Die Feindschaft scheint geradewegs wieder auszubrechen . . . Sei bloß froh, dass du in Hufflepuff bist! Jedenfalls wurde ich heute Morgen beinahe von einem Viertklässler aus Slytherin verhext und eben hat mir eine Sechstklässlerin tatsächlich die Himbeermarmelade über den Kopf gekippt!" Erst jetzt sah ich die roten Reste auf ihrem Umhang. "Ich wollte mich nur schnell sauber machen, bevor ich gleich Zaubereigeschichte habe . . . Und etwas Auszeit von den dummen Sprüchen und Angriffen brauchte ich auch!", erzählte Victoire mir mit einem entschuldigendem Lächeln. Sofort ging ich zögernd ein paar Schritte zur Tür: "Soll ich dich alleine lassen?" Sie winkte ab: "Nein, so war das nicht gemeint! Bleib nur." Dankbar und etwas verlegen sah ich zu, wie sie den Umhang ablegte und sich das Gesicht wusch. Dann zog sie sich fluchend die Marmelade aus den Haaren. Einen Moment überlegte ich, dann bot ich schnell an: "Kann ich dir vielleicht helfen?" Ein warmer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht und sie nickte. Ehrfürchtig holte ich meine Bürste aus der Tasche, stellte mich hinter meine Lieblingscousine und kämmte respektvoll und mit sanften Bewegungen jede einzelne blonde Haarsträhne. Victoire schloss die Augen. "Das ist echt lieb von dir, Lily", meinte sie lächelnd und in mir stieg die pure Freude auf. Schließlich war ihr Haar wieder genauso wundervoll wie zuvor. "Was hast du jetzt für ein Fach?", fragte sie mich interessiert, während sie ihre Handtasche schulterte. "Zaubertränke", erwiderte ich schüchtern. Sie verzog das Gesicht: "Mein Beileid. Ich habe es gehasst und nach der fünften Klasse abgewählt. Etwas Zeit habe ich noch bis zum Stundenanfang und Professor Binns würde meine Verspätung sowieso nicht bemerken. Soll ich dich noch in die Kerker bringen?" Vor Glück stiegen mir beinahe Tränen in die Augen und ich konnte einen emotionalen Ausbruch gerade noch so zurückhalten. Ich nickte nur und schniefte. Victoire musterte mich schräg von der Seite, als wir das Bad der Maulenden Myrthe verließen. Es lag nichts Abwertendes oder Böses in ihrem Blick, nur Mitleid und aufrichtiges Interesse. "Alles in Ordnung bei dir?", erkundigte sie sich fragend. Ich zuckte mit den Schultern und antwortete mit erstickter Stimme: "Geht so . . ." Keine Ahnung wieso, aber ich hatte plötzlich das Bedürfnis, Victoire von meinen Problemen zu erzählen, aber ich wollte sie nicht belästigen oder mich aufdrängen. "Weißt du, wenn du mal jemanden zum reden brauchst, dann kannst du gern zu mir kommen. Ich kann mir vorstellen, dass du mit James oder Albus kaum über Mädchenkram sprechen möchtest!", bot sie mir zwinkernd an. Nach einem kurzen Moment des Zögerns nickte ich lebhaft. "Danke", murmelte ich verwirrt. "Keine Ursache!", winkte sie ab. Zusammen gingen wir die Korridore von Hogwarts entlang und mich erfüllte ein unglaublicher Stolz. Ich wurde von meiner coolen und großen Cousine zum Unterricht gebracht! Schon lange war ich nicht mehr so fröhlich gewesen wie jetzt. Victoire war für mich die ältere Schwester, die ich mir immer gewünscht hatte.

Smells Like Teen SpiritWo Geschichten leben. Entdecke jetzt