Es gab tausende Schließfächer in Nowhere City, verteilt auf divese Bahnhöfe, Shopping Malls und andere Dienstleistungszentren. Seit der Sache mit den Terror-Anschlägen wenige Jahre zuvor fielen Schließfächer in den belebteren Stadtteilen als Langzeitlager aus. Die Überwachung war zu stark und jeder Gegenstand, den man hineinlegen oder herausnehmen wollte, wurde registriert. Die Banken waren mittlerweile auch etwas vorsichtiger geworden; Schließfächer konnte man nur noch unter Vorlage eines akribisch auf seine Echtheit geprüften Personalausweises mieten. Außerdem wurden Fingerabdruck- und Retina-Scans gemacht. Der Platz, den sie für all den Aufwand boten, war gelinde gesagt ein Witz. Aber es gab ja noch die guten alten Bahnhöfe in den etwas schäbigeren Vierteln dieser großartigen Stadt. Wenn man wusste, welche Fächer man nehmen konnte, war die Chance groß, dass sie eine ganze Weile in Ruhe gelassen wurden, bevor irgendwer sie knackte und sich mit dem Inhalt aus dem Staub machte.
Ich stand an einem dieser Bahnhöfe, einen kleinen, alten Schlüssel in meiner Hand und hoffte das Beste. Quer durch die Stadt verteilt warteten zwei oder drei Notfall-Lager darauf, von mir geplündert zu werden. Aber das hier war ein spezielles Lager. Es enthielt genügend Geld, um eine Weile untertauchen zu können, 2 gefälschte Ausweise, außerdem einen Schlüssel für ein weiteres Schließfach. Und dann war da noch die Key-Card. Ich würde sie vorerst nicht verwenden, aber es schadete wohl nicht, wenn ich sie bei mir trug.
Falls mein Lager noch existierte. Aber meine Chancen standen eigentlich nicht schlecht. Eine etwas in die Jahre gekommene Sicherheitskamera filmte den Bereich um die Schließfächer. Sie drehte sich in einem 160 Grad Winkel gemächlich hin und her. Und es herrschte etwas Durchgangsverkehr. Nicht viel, aber es würde auffallen, wenn jemand versuchen sollte, ein Schloß gewaltsam zu öffnen.
***
Ich wartete, bis die Kamera sich von mir weggedreht hatte, dann ging ich zügig auf die Wand voller Schließfächer zu, steckte den Schlüssel in ein kleines, aber recht stabiles Vorhängeschloss bei Nummer 273 und drehte ihn. Das war nicht ganz so einfach, da meine Hände immernoch etwas zitterten. Ich war wirklich Topfit.
Das Schloss schnappte auf und ich hielt die Luft an.
Die schwarze Sporttasche war schonmal da. Gut. Ich musste mich sputen, wenn ich nicht von der Kamera gefilmt werden wollte, also musste der Inhalts-Check noch etwas warten. Wer wusste schon so genau, wer die Überwachungsvideos alles zu Gesicht bekam? Jedenfalls niemand, der wissen musste, dass ich noch am Leben war.
Also: Tür zu, Schloss zu und weg.
Ich erlaubte mir erst, stehen zu bleiben, als ich den Bahnhof bereits verlassen hatte und ein Stück weit durch die Stadt gelaufen war. Ich ging in die Hocke, stellte die Tasche ab wie jemand, der nur eben eine Packung Zigaretten herauskramen wollte und machte Bestandsaufnahme.
Geld – Check.
Schlüssel – Check.
Key-Card – Check.
Die Ausweise – nun, ich versuchte, sie so gut es ging zu ignorieren. Trotzdem knüllte sich mein Magen zu einem kleinen harten Klumpen zusammen. Ich wusste, wessen Gesicht mich aus einem der beiden Dokumente anlächeln würde; schließlich hatten Rachel und ich die Tasche gemeinsam gepackt. Am Abend, als sie starb. Bevor wir zu den Docks fuhren. Falls etwas schief laufen sollte. Oder wir uns tatsächlich dazu entschließen sollten, die Biege zu machen. Aber keiner von uns hatte es an jenem Abend noch bis zum Bahnhof geschafft.
Ich musste mich zusammenreißen. Ich kniete immernoch vor der schwarzen Tasche und sollte nicht unnötig auffallen. Also ließ ich das Geld und den Schlüssel, wo sie waren; das kleine schwarze Plastikkärtchen verschwand in meiner Brieftasche. Dann zuckte ich mit den Schultern, als hätte ich nicht gefunden, was ich gesucht hatte, zog den Reißverschluss der Tasche wieder zu und stand auf. Das ganze dauerte ein wenig und sah nicht besonders elegant aus, weil sich mein geschundener Körper zu Wort meldete. Aber irgendwie schaffte ich es doch, und setzte mich schließlich, mit einiger Verzögerung, in Bewegung.
***
Die Adresse, die mir der Doc gegeben hatte führte mich zu einem alten Wohnblock, ähnlich dem, in dem der Doc seine Praxis hatte; Altbau, irgendwann aus den 50ern; die Gegend mochte einmal ganz nett gewesen sein, bevor sich das Stadtzentrum verlagert hatte.
Jetzt war es einfach nur heruntergekommen - das Auffangbecken der verlorenen Kinder von Nowhere City; wer hier landete, hatte nicht mehr viel zu erwarten. Aber hier würde auch niemand Fragen stellen.
Also ging ich hinein.
DU LIEST GERADE
Jimmy is Dead - ein Noire-Krimi
Mystery / Thriller"Als Kind hatte ich Albträume. Von Monstern, Biestern, Kreaturen, die mir nach dem Leben trachteten. Manchmal träumte ich vom Tod meiner Eltern, so als ob ich selbst dabeigewesen wäre. Dieser hier war anders. Ich hatte von Rachel geträumt. Sie lag...