Kapitel 09: Hausbesuch

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Ich saß in einer großen zweistöckigen Fähre, die flussaufwärts fuhr. 3 Stunden hatte ich Zeit, mir einen Plan zurecht zu legen und herauszufinden, ob ich beobachtet wurde. Das zweite war nicht schwer; ich hatte mir einen Platz ganz vorne gegen Fahrtrichtung geschnappt. So hatte ich einen guten Überblick über das Treiben um mich rum, ohne dabei groß aufzufallen.

Heute war Donnerstag, d.h. Bob wäre schon früh in der Bar, um das Chaos vom Vortag aufzuräumen. Es hatte also doch Vorteile, in einer fußballverrückten Stadt zu wohnen. Ich war früh schlafen gegangen, hatte am nächsten Morgen die erste Fähre flussaufwärts bestiegen und hier saß ich nun.

Die Gesichter um mich herum wirkten größtenteils noch recht verschlafen; die Maschinerie der Arbeitswelt lief noch nicht sehr hochtourig. Die mitreisenden Schulkinder wirkten im Gegensatz dazu wie auf Speed. Sie wuselten durch die Gänge, Rucksäcke am Rücken und spielten fangen. Ein kleineres Kind weinte irgendwo. Geschäftsleute tippten mit gehetztem Blick Dinge in ihre Laptops - die Maschine schläft nie und ihr Hunger scheint grenzenlos.

Jedenfalls wirkte keiner der Fahrgäste besonders nervös oder fehl am Platz; ich blieb trotzdem wachsam, während ich die Fahrt genoss, den lehmigen Geruch der Ol' Lady, die ersten Sonnenstrahlen, die sich auf dem Wasser spiegelten und fremdartige Schatten warfen; ein wahrer Traum für alle Fans von Seeungeheuern.

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung war, viel zu geschmeidig, um hierher zu gehören, irgendwie vertraut. Ich blieb ruhig sitzen, nur keine hektischen Bewegungen jetzt. Auf die andere Seite des Ganges hatte sich eine Person gesetzt, weiblich, Ende 20, brünettes, halblanges Haar, schlank, unauffälliges Durchschnittsgesicht. In einer Menschenmenge wäre sie nicht weiter aufgefallen, die wenigsten hätten sich nach ihr umgedreht. Einem aufmerksamen Beobachter wäre allerdings die katzenhafte Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen aufgefallen, selbstbewusst, natürlich. Unter ihrem grauen Business-Outfit versteckte sie einen beeindruckend durchtrainierten Körper; um das zu sehen, brauchte man nicht viel Fantasie.

Ihre Familie stammte schätzungsweise aus irgendeinem Ostblockstaat, dessen Namen man allenfalls buchstabieren kann, aber niemals aussprechen, ohne sich die Zunge zu verknoten. Genau Vince' Typ. Leise, unauffällig, tödlich.

Was machte sie in dieser Fähre?

Wohin wollte sie?

Ich würde wohl oder übel meine Pläne ändern müssen, um ihr zu folgen; Bob konnte noch ein bisschen warten.

Sie war arrogant genug, sich nicht umzusehen, es gab schließlich niemanden, der sie hätte identifizieren können.

Seelenruhig saß sie da und las in einem Buch, das sie aus ihrer braunen Designerhandtasche gezogen hatte, die Beine übereinandergeschlagen, entspannt. In Gedanken ging sie wahrscheinlich gerade einen Auftrag durch, jedes schmutzige kleine Detail. Für einen Augenblick erlaubte sie sich ein flüchtiges schüchternes Lächeln zu einem Typen, der ihr gegenüber saß und sie von den Beinen bis zu den Brüsten musterte, ehe er sich wieder seiner Zeitungslektüre widmete. Wenn der wüsste...

Ein kurzes Funkeln in ihren smaragdgrünen Augen; ohne Zweifel schnitt sie ihm in Gedanken gerade im Bett die Kehle durch, nachdem sie ihren Spaß gehabt hatte. Wäre wahrscheinlich nicht das erste Mal.

Als die Fähre schließlich anlegte, blieb ich noch ein wenig sitzen, damit Nadja (ich fand, sie sah aus wie eine Nadja) die Gelegenheit hatte, mit der nach draußen strömenden Menschenmenge zu verschmelzen; es gelang ihr fast. In sicherem Abstand folgte ich ihr auf den Anleger hinaus auf die Straße; nicht allzu weit entfernt lag meine Wohnung. Ich würde ihr noch einen kurzen Besuch abstatten, bevor ich zurück nach Nowhere City fuhr.

Meinen Mantel hatte ich durch ein braunes Sakko ersetzt, ich trug eine schwarze Krawatte zu einem weißen Hemd und einer schwarzen Stoffhose; ein Hut in Sakkofarbe durfte natürlich nicht fehlen. In meiner rechten Jackentasche ruhte ein voll geladener Elektroschocker; in meinem linken Ärmel verbarg sich ein Teleskop-Schlagstock - ich wollte Bob schließlich nicht völlig unbewaffnet gegenübertreten.

Jimmy is Dead - ein Noire-KrimiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt