Linoj

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Es setzte den einen Fuß vor den anderen, rechts, links, rechts, links, zog die groben Stiefel mal und mal aus der aufgeweichten Erde, rechts, links, rechts, links, marschierte im Gleichschritt mit seinen Kameraden, rechts, links, rechts, links, versuchte nicht zurückzufallen.

Der Geruch von verbranntem Fleisch lag in der Luft. Er versuchte sich den Schmutz vom Gesicht zu wischen, aber seine Sicht wurde weiterhin von der Asche in seinen Wimpern getrübt. Die Erschöpfung drohte ihm zu übermannen; er dufte ihr nicht nachgeben. Durfte sich nicht von ihr einlullen lassen, durfte sich nicht in ihr verlieren.

Rechts, links, rechts, links.

Er hörte Schreie in der Ferne. Tief im Wald oder auch weit am Horizont. Vielleicht war es auch nur ein Echo, das in seinem Geist gefangen war. Dass er wieder und wieder hören musste. Er hatte längst aufgegeben, sich die Ohren zuzuhalten. Die Schreie nahmen kein Ende.

Rechts, links, rechts, links.

Eine Sonne ging auf, grell und unnachgiebig. Er wusste nicht mehr, welche Sonne es war. Vielleicht Pulz? Vielleicht Fer? Er wusste es nicht. Es war gleichgültig. Er wünschte, die Sonne würde auf die Erde prallen und das ganze Leid für ein und alle mal mit sich nehmen. Wünschte sich, es gäbe eine Macht, die dem Grauen ein Ende bereiten konnte.

Rechts, links, rechts, links.

Er fragte sich, ob er verwundet war. Er spürte seinen Körper nicht mehr, es wäre gut möglich. Vielleicht hatten sich die Klauen des Biestes in seine Schulter gebohrt. Vielleicht war die Wunde an seinem Bauch aufgerissen, vielleicht hatte ihm die Fratze ein Ohr abgebissen, vielleicht fehlte ihm ein Fuß. Nein, ihm fehlte keinen Fuß, auch kein Bein, er konnte das dumpfe Geräusch seiner auf dem Boden auftretender Stiefel hören. Vielleicht waren es aber auch nicht seine. Er wusste es nicht. Vielleicht fehlten ihm beide Beine und was er hörte, waren die Stiefel seiner Kameraden. Vielleicht war er auch schon tot und das dumpfe Geräusch, war der Tod, der ihn in sein Reich zerrte. Er hoffte es.

Rechts, links, rechts, links.

Jemand zog ihn an seinem Arm mit sich, er wehrte sich nicht dagegen. Falls es ein Freund war, wollte er sich nicht wehren. Falls es ein Feind war, hatte es keinen Sinn mehr sich zu wehren. Er folgte dem Arm. Fand sich in einem kleinen Zelt wieder. Die Ashe verschwand aus seinen Wimpern, jemand zupfte sie von den feinen Härchen. Er kannte das Gesicht vor ihm, ein Freund. Jemand, der ihn heilte, immer und immer wieder. Jemand, der ihn nicht sterben ließ.

Rechts, links, rechts, links.

Man bot ihm essen an, drückte es in seinen Mund, als er nicht wusste, was er mit dem Stück Brot machen sollte. Es schmeckte ihm nicht. Es war kaum gebacken. Er wünschte, er könnte zurück ins Weite Tal und das Brot seiner Mutter kosten. Ein letztes Mal, bevor man ihn zurück über die Unüberwindbaren Berge schleifte und ihn in den Tod schickte.

Rechts, links, rechts, links.

Er wusste nicht, was am Krieg ehrenvoll sein sollte. War es ehrenvoll, seinen zerschundenen Körper durch den Dreck zu ziehen? War es ehrenvoll seine Kameraden sterben zu sehen? Wie ihnen das Blut aus dem Mund quoll, wie sie schrien und weinten und um Gnade flehten? War es ehrenvoll sie zu beneiden, weil sie einen Ausweg aus dieser Hölle gefunden hatten, während man selbst noch unter den Lebenden weilte?

Rechts, links, rechts, links.

Er rief sich seinen Namen in Erinnerung. Versuchte ihn mit aller Macht festzuhalten, um sich nicht zu verlieren zwischen Schutt und Asche und Tod. Schrie ihn durch seine Gedanken, fühlte ihn auf seiner Zunge. Er klammerte sich an seinen Namen. Es war das letzte, was er noch besaß.

Linoj, Linoj, Linoj.

Die GerufenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt