Nur langsam klärte sich Arox' Blickfeld. Verschwommen erkannte er die Wolken, die über ihm unaufhaltsam ihre Bahnen zogen. Er spürte jeden einzelnen Knochen in seinem Körper – denn jeder einzelne Knochen in seinem Körper schmerzte. Und zwar sehr.
Ein ersticktes Keuchen kam über seine Lippen, als etwas seinen Oberkörper streifte und die Qualen in seinem Inneren vervielfachte. Er riss panisch die Augen auf, versuchte mehr von seiner Umgebung zu erkennen, doch der Schatten, der seine Sicht trübte, ließ sich nicht abschütteln. Vage erkannte er die Umrisse eines Mannes. Eines Mannes, dessen Glatze im Licht des untergehenden Pulz' schimmerte. Schlagartig erinnerte er sich an den Kahlen, der ihn beobachtet und ihn dann an die Akademie der Gerufenen hatte schleifen wollen. Wut durchfuhr den Verletzten wie ein Blitz.
»Fass mich nicht an. Verschwinde«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch.
Der Mann entgegnete seelenruhig: »Ohne meine Heilmagie, bist du – grob geschätzt – in dreizehn Sekunden tot. Soll ich immer noch verschwinden? Deine Entscheidung«. Arox konzentrierte sich auf seinen Körper und spürte die seltsam fremde Magie, die durch ihn surrte. So murrte er etwas, das mit viel Fantasie und gutem Willen als ein Nein interpretiert werden konnte.
»Dachte ich mir doch«, schmunzelte der Kahle, bevor er schnell wieder ernst wurde und sich der Versorgung von Arox' Wunden annahm. Dieser lauschte einigen leisen Worten in einer Sprache, die ihm nicht bekannt war, dann plötzlich krümmte er sich schreiend zusammen. Tränen, die ihm der Schmerz in die Augen trieb, rannen ihm über die Wangen, ohne dass er sie aufzuhalten vermochte. Er nahm wahr, wie sich die Knochen in seinem Körper verschoben. Er hörte seine Rippen ächzen, als sie ihre gewohnten Plätze einnahmen. Er fühlte, wie sich die Sehnen, Bänder und Muskeln, die das Ungeheuer entzweit hatte, verschmolzen und sich regenerierten.
Dann fand die Qual ein abruptes Ende. Arox spürte das Blut, das nun wieder voller Energie durch seine Adern jagte. Das schrille Pfeifen in seinen Ohren war verstummt und das gleichmäßige Plätschern des Flusses Cay war das einzige Geräusch, das er vernahm. Sekundenlang wagte er es nicht, sich zu bewegen; aus Angst die Pein möge zurückkehren.
Das Rascheln sich bewegenden Stoffes rief ihm ins Gedächtnis, dass er nicht allein war. Er jagte hoch, legte die Hand an seinen Gurt, nur um festzustellen, dass der Halter seines Dolches leer war.
»Hätte ich dich töten wollen, hätte ich dich wohl kaum mit meiner Magie versorgt, sondern dich einfach sterben lassen, Erstling«, meinte der Kahle, während er sich Erdstückchen von seinem Wams klopfte.
»Nenn mich nicht Erstling«, fauchte Arox. Er musste sich von diesem Glatzkopf nicht beleidigen lassen. Arox war vieles, aber ganz bestimmt kein Erstling.
Der Fremde zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Wie soll ich dich sonst nennen?«
»Arox. Ich bin Arox aus Ljec.« Unbewusst reckte er sein Kinn in die Höhe, wie immer, wenn ihn der Stolz, Arox aus Ljec zu sein, beflügelte.
»Nun, Arox aus Ljec, ich möchte, dass du mir jetzt genau zuhörst, denn ich habe nicht die Geduld dir die ganze Geschichte nochmals in deinen Schädel hämmern zu müssen. Mein Name ist Myrax und ich bin ein Gerufener wie du. Mein zweifacher Ruf für die Kampf- und Heilkunst entfaltete sich in meinem sechsten Lebensjahr und seit ich meinen Ruf zum ersten Mal vernommen hatte, lernte ich an der Akademie der Gerufenen mit meinen Gaben umzugehen. Nun streife ich als elfter Meister der Akademie durch das weite Tal und bin auf der Suche nach verlorenen Gerufenen. Also nach Leuten wie dir. Ich werde mich deiner annehmen und dafür sorgen, dass du an der Akademie lernst, deinen Ruf zu kontrollieren und für das Gute einzusetzen.«
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Die Gerufenen
FantasyDer Auftakt der Fantasy-Dilogie «Die Gerufenen» Der Frieden im Weiten Tal ist gefährdet. Mit jedem Tag überwinden mehr Ungeheuer die schützende Bergkette und nicht einmal die schwer bewaffneten Truppen können die Sicherheit der Bewohner garantieren...