»Sehr gut, konzentriere dich weiter darauf, nur wenig deiner Energie freizusetzten. Ein gleichmäßiger Strom an Kraft führt einen Zauber effektiver aus, als wenn sich viel Kraft auf einmal loslöst.«
Arox atmete tief bis in den Bauch, wie es ihm der Meister beigebracht hatte. Keine heftigen Bewegungen, den Fokus auf sein Inneres gerichtet. Die Außenwelt mit seinem Ruf zu verbinden, würde er erst in einem zweiten Schritt erlernen, hatte ihm Myrax erklärt, da dies zu schweren Unfällen führen konnte, wenn der Gerufene sich nicht vollkommen unter Kontrolle hatte. Arox war zwar überzeugt, dass er bereit war, um mehr zu versuchen, als immer wieder Energiekugeln aus dem Nichts heraufzubeschwören, aber für einmal wiedersetzte er sich nicht.
Zwar nur, weil es bedeutete, dass er den lieben langen Tag in Erinnerungen schwelgen konnte, aber welche Rolle spielten schon die Details.
Erst kämpfte Arox gegen das Bild vor seinem inneren Auge an, versuche es durch die üblichen Erinnerungen zu ersetzen. Doch er konnte nicht umhin, das zarte Antlitz zu bewundern. Das Lächeln auf ihren Lippen, das niemals ganz zu verschwinden schien. Wie die vier Sonnen des Weiten Tals. Sie wechselten sich ab, Pulz war der stärkste, Fer folgte ihm, Lios eine Kugel reines Feuers, Cindra nicht mehr als ein schwacher Schimmer. Selbst an den grauen, kalten Tagen, erhellte stets eine der Sonnen das Weite Tal. Wie ihr Lächeln, das niemals verschwinden konnte.
»Halte den Gedanken fest, er ist stark«, wies Myrax ihn an. Arox leistete ohne zu zögern Folge, auch wenn er nicht wusste, ob es ihm gefiel, dass alleine die Erinnerung an Clenya derart mächtig war, dass es ihm half seinen Ruf zu kontrollieren.
»Jetzt möchte ich, dass du den Energieball in deinen Händen wachsen lässt. Nicht fest, nur merklich grösser.«
Arox wunderte sich einen kurzen Moment, ob alle Meister sich derart präzise ausdrücken konnte. Ein Haus war ebenfalls merklich grösser als eine Maus. Genauso wie ein Elefant grösser war als eine Ameise. Und das Leuchten in Clenyas Augen grösser als das einer jeder anderen.
»Gut so. Und jetzt verkleinere die Kugel wieder auf ihre ursprüngliche Größe... nicht so schnell! Vorsicht ist geboten, wenn die Energie sich deiner Kontrolle entzieht, wird sie sich frei entladen. Es gibt einen Grund, warum viele Novizen an der Akademie ohne Augenbrauen herumlaufen.«
Unwillig schmunzelte Arox beim Gedanken an eine Akademie voller augenbrauenloser Neunmalkluge, die sich andauernd selbst in die Luft jagten.
»Wie viele Gerufene lernen an der Akademie?«, fragte er. Seine Neugierde kaum verborgen hinter einem schlechten Versuch uninteressiert zu klingen.
»Deutlich mehr, als das Weite Tal sich vorstellt. Es lernen bis zu fünfzig Novizen an der Akademie und die meisten beschließen nach ihrer Ausbildung an der Akademie zu bleiben. Rund dreihundert Gerufene leben in den alten Gemäuern. Zusätzlich kann man die Patienten der Krankenstation noch dazuzählen, dann kommt man insgesamt bestimmt auf fünfhundert Bewohner.«
Fünfhundert! Man hatte Arox stets erzählt, dass es im gesamten Weiten Tal nicht mehr als hundert Gerufene gibt und jetzt lebten alleine in der Akademie schon fünfhundert? Kein Wunder, dass sich viele Bürger vor der Macht der Akademie fürchteten.
»Was für eine Krankenstation?« Arox wusste, dass einige Gerufene mit einem Ruf für die Heilkunst die Truppen in die Kämpfe begleiteten, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Andere richteten sich in Dörfern ein, um den Bürgern beiseite zu stehen, auch wenn das bedeutete, ein Leben in Spot zu führen, obwohl sie noch zu den am meisten akzeptierten Gerufenen gehörten. Aber eine Krankenstation? Voller Gerufene, direkt in der Akademie?
»Kaum jemand weiß davon«, erklärte der elfte Meister. »Wir behandeln viele Kriegsveteranen, die an der Front selbst nicht mehr genesen können und aus dem Dienst entlassen worden sind. Auch so manch einer, der nicht mehr gerettet werden kann, begibt sich in die Obhut der Heiler, um sich einen schmerzfreien Tod zu verschaffen.«
»Aber warum weiß man dann nicht davon? Könnte man nicht viel mehr Leuten helfen, wenn sie von einer solchen Gelegenheit wüssten?«
Myrax lächelte. Er wirkte müde und traurig.
»Das Wissen um die Krankenstation wird aus zweierlei Gründen nicht weiterverbreitet. Erstens, weil die Truppen des Weiten Tals sich schämen, so eng mit der Akademie zusammen zu arbeiten. Und zweitens, um die Sicherheit der Institution zu garantieren. Was glaubst du, würde passieren, wenn jeder noch so altmodische Bürger des Weiten Tals plötzlich von einer Krankenstation erfahren würde, die nur von Gerufenen geleitet wird?«
»Man würde die Krankenstation angreifen.«
»Angreifen und bis auf die Grundmauern niederbrennen«, stimmte Myrax zu. »Leider können sich die Gerufenen nicht von ihrem schlechten Ruf lossagen. Noch immer glauben die meisten Bewohner, dass die Gerufenen nach der Herrschaft streben, dass wir jeden ohne Ruf für tiefergestellt halten und unterjochen wollen. Man kann niemandem verübeln, sich vor etwas zu fürchten, dass er nicht kennt.«
»Warum sorgt man dann nicht dafür, dass die Gerufenen verstanden werden? Wäre das nicht besser für beide Parteien? Die Gerufenen können sich frei bewegen, ohne dass man sie verspottet und hasst, und die Bürger könnten von den Rufen profitieren.«
Myrax seufzte tief. Er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein, da er nicht kommentierte, dass Arox' Energiekugel rasant angewachsen war. Der Gerufene des Wassers versuchte seinen Ärger unter Kontrolle zu kriegen, bevor es seinem Meister auffiel, wie sehr ihn das Thema beschäftigte.
»Das ganze Unternehmen ist leider nicht so einfach wie es vielleicht klingt. Man fürchtet sich mit Grund vor den Gerufenen.«
»Welchem Grund?«, hakte Arox nach.
Myrax verstummte für ein paar Augenblicke, als müsste er seine Gedanken ordnen, ehe er erneut zum Sprechen ansetzte: »Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Gerufenen, auf das wir nicht stolz sind. Aber das ist eine Geschichte für ein andermal. Jetzt möchte ich mit dir noch etwas anderes besprechen: die Akademie.«
Der Gerufene verbarg seine Enttäuschung geschickt, auch wenn alles in ihm danach schrie, weiternachzuforschen, um endlich zu verstehen, warum er seinen Ruf verstecken musste, seit er denken konnte.
»Was ist mit der Akademie?«
»Ich werde morgen früh aufbrechen und mich zurück an die Akademie begeben. Ich möchte, dass du mich begleitest und Novize der Akademie wirst. Du hast die Grundlagen gemeistert, als dass es dir offensteht mein Angebot abzulehnen, ohne dass ich mich ängstigen muss, dass du deinem Umfeld Schaden zufügst. Nichtsdestotrotz lege ich es dir sehr ans Herz, mich zu begleiten.«
Arox wusste nicht recht, was er antworten sollte. Einerseits reizte ihn das Angebot. Er hatte die Ablehnung gegen seinen Ruf lange genug bei jedem seiner Schritte gespürt. An der Akademie wäre er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Umfeld, in dem einen Ruf zu besitzen normal war, ja sogar das Übliche. Etwas, was man nicht verstecken musste.
Er fühlte sich hier nicht zuhause, keine eigene Wohnung, keine Familie, nichts was er zurücklassen würde. Außer...
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach er schließlich. Dass er die Angelegenheit noch mit jemandem besprechend wollte, behielt er für sich. Den Meister ging es nichts an, wie er seine Entscheidung fällte.
»Ich werde morgen bei Pulz' Aufgang in Avin aufbrechen. Schließe dich mir an oder nicht, ich zwinge dich zu keiner Entscheidung.«
»Auch wenn du dir sicher bist, dass es nur eine richtige Entscheidung gibt?«, entgegnete Arox mit hochgezogenen Brauen. Myrax lachte auf, schüttelte den Kopf und winkte dem Gerufenen zum Abschied zu, ehe er den Weg zurück nach Avin einschlug.
Auch Arox machte sich auf den Weg, jedoch nachPimdi. Er musste sie sehen. Musste sie fragen, was sie von der ganzen Ideehielt. Und sie bitten, ihn zu begleiten.
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Die Gerufenen
FantasyDer Auftakt der Fantasy-Dilogie «Die Gerufenen» Der Frieden im Weiten Tal ist gefährdet. Mit jedem Tag überwinden mehr Ungeheuer die schützende Bergkette und nicht einmal die schwer bewaffneten Truppen können die Sicherheit der Bewohner garantieren...