Thoma

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»So erhört uns, ihr Götter, erhört uns und unsere Gebete, die wir in tiefster Ehrfurcht an euch richten. Erhört uns und klärt unsere Gedanken von Zerstreuungen, die uns von eurem Weg abzubringen versuchen. Erhört uns und segnet unser Dasein mit eurer Liebe, sodass wir euren Segen an unsere Nächsten weitergeben können.«

Thoma kniete auf dem kalten Boden, lauschte den Worten des Predigers und sandte seine eigenen Gebete an die Götter, in der Hoffnung, dass sie es ihm nicht übel nahmen, wenn er es bevorzugte sich in seinen eigenen Worten an sie zu richten und nicht in den gesalbten Versen längst verstorbener Brüder und Schwestern.

Die Kerzen flackerten und hüllten die Kapelle in ein unheimliches Licht. Schatten zogen sich an den Wänden hoch wie Geister von Verstorbenen, die Nachrichten von den Göttern zu überbringen versuchten, ohne dass jemand ihnen Gehör schenkte. Thoma liebte es die Schatten zu beobachten, wie sie grösser und kleiner wurden, sich mit den Brüdern und Schwester in der Kapelle bewegten und nie ganz stillstanden, auch wenn es die Betenden es taten. Schon vor Monaten hatte Thoma aufgehört mitzuzählen, wie oft er dafür gerügt wurde, seinen Geist auf Wanderschaft zu schicken, wenn er doch eigentlich der Predigt folgen sollte. Der Blick, der ihm Bruder Jeroen zuwarf, legte nahe, dass Thoma noch eine Predigt ganz anderer Art zu hören bekommen würde.

Schuldbewusst richtete er seinen Blick vor ihm auf den Boden, wo er schon die ganze Messe über hätte sein sollen. Thoma liebte die Messen. Die Gesänge, deren Klang in den steinernen Wänden anschwoll, bis die fünf Brüder sich anhörte wie ein vielköpfiger Chor. Die Bitten, welche die Priester und Priesterinnen an die Götter richteten, berührten Thoma tief. Er hoffte, bald auch für die Menschen in Not eine Stütze sein zu können. Auch wenn er ihnen mit nicht mehr als seinem Wort dienen konnte. Die Liebe der Götter mussten sie aus eigenem Willen ersuchen.

So sehr Thoma die Messen in der kleinen Kapelle auf dem Hügel auch liebte, heute konnte er es kaum erwarten zurück in seine Kammer zu huschen, um seine Neuentdeckung weiter zu erforschen.

Und ausgerecht heute war einer seiner Brüder an der Reihe seine erste Messe zu halten. Er stotterte die Verse, zog sie unnötig in die Länge. Thoma besaß für einen Jungen von nicht mal zwanzig Jahren außerordentlich viel Geduld. Es kümmerte ihn nicht, wenn er stundenlang am Tor des Zauns stand, bis auch die letzte Ziege von alleine in die Scheune trabte, während die gleichaltrigen Brüder und Schwester oft mit ausgestreckten Armen über die Wiese rannten und die Tiere in ihren Unterschlupf trieben.

Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Thoma so etwas viel Eile. Wenigstens gelang es ihm aus der Kapelle zu schlüpfen, bevor Bruder Jeroen ihn in die Finger kriegte. Seine Kutte flatterte ihm eisigen Wind, als er den Hügel hinuntereilte. Vorbei an dem Brunner, an dem er sonst so gerne innehielt, um dem gleichmäßigen Plätschern des Wassers zuzuhören. Er schlug sogar die Abkürzung durch die Schlächterei ein, obwohl er den Geruch von Fleisch nicht leiden konnte. Früher hatte Thoma gehofft, eine Ausbildung als Heiler anstreben zu können, doch beim Anblick von Blut wurde ihm Schwarz vor den Augen. Dann begann sich die Welt ganz fürchterlich zu drehen und Schweiß drang aus seinen Poren, als wäre er gerade einem Ball über den Hof nachgejagt. Nein, Thoma mochte kein Blut.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, obwohl es der Pater verboten hatte, jagte er die Treppen zu den Schlafkammern hoch. Erst als er die Tür hinter ihm zugezogen hatte und schwer atmend gegen das morsche Holz lehnte, wagte Thoma es, sich voll und ganz auf den bevorstehenden Versuch zu konzentrieren. Er hoffte, die Götter würden ich vergeben, wenn er sich von seinen heutigen Pflichten als Novize drückte.

Er hob die Matratze an, die ihm als Lager diente, und stellte die Kerze, die er darunter versteckt hatte, in der Mitte seiner Kammer auf den Boden. Die Beine verstränkt, ließ Thoma sich daneben auf den Boden fallen und schloss die Augen. Noch ein paar weitere tiefe Atemzüge später, öffnete er sie wieder und richtete den Blick auf die Kerze. Enttäuscht wiederholte er die Prozedur.

Sein Vorhaben gelang ihm erst beim sechsten Versuch: Eine kleine Flamme nährte sich vom Dolch der Kerze. Fasziniert beobachtete Thoma wie das Wachs sich aufwärmte, bis letztlich ein kleiner Tropfen an der Seite der Kerze hinunterrollte. Der Junge hätte vor Begeisterung schreien können.

Er löschte die Flamme und wiederholte das Experiment wieder und wieder. Hocherfreut darüber, wie viel schneller die Flamme mal um mal auftauchte.

»Thoma«, sagte ein junger Mann, der von Thoma unbemerkt ins Zimmer getreten war. Er trug keine Kutte, die ihn als Novizen auszeichnen, stattdessen die graue Uniform eines Bediensteten. Er konnte nicht viel älter sein wie der Junge, der mit vor Schreck geweiteten Augen auf dem Boden neben einer Kerze kniete, die beiden trennten ein paar Jahre höchstens, und doch spiegelten sich in des Neuankömmlings Augen die Sorgen der Erwachsenen, während Thoma im Herzen ein Kind geblieben war.

»Bitte sag niemandem was, Brek«, flehte Thoma. Er begann am ganze Körper zu zittern, wie damals, als er hätte Essen fassen sollen und in der großen Halle zwischen den vielen schnatternden Novizen gefangen worden war, bis der beaufsichtigende Bruder ihn zur Seite gezogen hatte, wo er sich fern von jeglichem Lärm hatte beruhigen können.

Brek zögerte nicht lange und zog seinen Freund in eine feste Umarmung, wiegte ihn hin und her, bis sich der Atem der Jüngeren beruhigte.

»Ich werde niemandem was sage, ich verspreche es«, sagte Brek mit ruhiger und klarer Stimme. Er wusste, dass Thoma nur so auch wirklich verstand, dass er es ernst meinte. »Im Gegenzug musst du mir versprechen vorsichtiger zu sein. Versperr die Tür, wenn du... wenn du mit dem Feuer redest.«

»Ich rede nicht mit dem Feuer. Es spricht zu mir. Ich wünschte, du könntest hören, wie es sich freut, wenn erwacht.« Thoma verstummte für einen Moment und fügte dann unsicher hinzu: »Aber wir dürfen keine Türen versperren.«

»Das weiß ich doch, aber wenn du mit einer versperrten Tür erwischt wirst, bekommst du lediglich eine Mahnung zu hören, während du mit einem Ruf... sieh einfach zu, dass du dich nicht mit dem Feuer erwischen lässt, in Ordnung?«

Der Novize nickte. Es gab viele Regeln, die er nicht verstand. Er befolgte sie trotzdem; sich an Regeln zu halten war leicht. So manche eine Vorschrift hatte er sich erklären lassen, um dessen Hintergründe wenigstens nachvollziehen zu können. Aber bis heute hatte ihm niemand eine gute Erklärung liefern können, warum kein Gerufener die geweihten Böden des Klosters betreten durfte.

Nach seiner gestrigen Entdeckung hatte Thoma kein Auge zugetan. Die ganze Nacht über hatte er auf seinem Lager gelegen und versucht eine Lösung zu finden, die ihm gestattete keine Regeln zu brechen.

Er hatte das Feuer schon oftmals sprechen hören, doch es war nie mehr als ein Flüstern gewesen. Er hatte sich darüber nie den Kopf zerbrochen. Aber jetzt, wo er dem Ruf geantwortet hatte, müsste er das Kloster verlassen. Er hatte es schon einmal miterlebt; im Sommer vor zwei Jahren war es gewesen, als man das kleine Mädchen weggeschleift hatte, man hatte ihr die Kutte vom Leib gerissen, sie in den Dreck gestoßen und ihr verboten jemals wieder einen Fuß in eine Kapelle zu setzten. Später hatte Thoma versucht ihr sein Waschtuch zu bringen, damit sie sich die Tränen vom Gesicht trockenen konnte, aber das Mädchen war bereits verschwunden gewesen. Thoma wollte nicht wie sie enden.

Er hätte das Kloster verlassen können, sich nachts rausschleichen. Oder sogar tagsüber. Er hätte an den Schafen vorbei durch das große Tor spazieren können, hinaus in das Weite Tal. Aber Thoma mochte seine kleine Kammer, die kalten Steinwände, die Stille in der Kapelle, die herrschte, wenn er sich alleine hineinschlich, ja, manchmal sogar seine Brüder und Schwestern, wenn sie nicht gerade versuchten ihn in Raufereien zu verwickeln.

Er verstieß gegen seine Pflicht als Novize, wenn er sich nicht augenblicklich bei den Aufsehern meldete und ihnen von seinem Ruf erzählte. Andererseits hatte er es gestern schon nicht getan. Er konnte noch einen weiteren Tag warten, bis er sich endgültig entschied, wie er sich Verhalten sollte. Brek hatte ihm erklärt, dass es in Ordnung war, wenn man manchmal nicht sofort entscheiden konnte, wenn man mehr Zeit brauchte, um über eine Sache nachzudenken. Und Thoma vertraute Brek.

»Möchtest du sehen, wie ich die Kerze anzünde?« Thoma strahlte bis über beide Ohren, als sein Freund die Frage bejahte. Die Sorgen, die ihn die ganze Nacht wachgehalten hatte, augenblicklich vergessen.

Die GerufenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt