Mit größter Mühe versuchte er seine Atemzüge unter Kontrolle zu kriegen. Sie zu verlangsamen und so lautlos wie möglich zu gestalten. Das Brennen in seiner Brust, das begleitete, das sich schlimmer anfühlte als ein Dolchstoß jedes Keuchen, war nicht sein einziges Problem. Er fühlte sein Bein nicht mehr. Nur weil er es sehen konnte, wusste er überhaupt, dass er noch ein Bein besaß. Vielleicht war es auch nur Einbildung. Es war nicht unüblich, dass seine Kameraden Körperteile sahen, die gar nicht mehr Teil ihres Körpers waren.
Er humpelte weiter, suchte hinter dem Geröll Schutz, obwohl er nicht mehr wusste, von welcher Seite er sich schützen musste. Kantige Steine rissen ihm die Fußsohle auf. Er musste seinen Stiefel verloren haben. Er konnte nicht umhin, den Verlust seines Stiefels zu betrauern, während er sich doch eigentlich darauf fokussieren sollte, von hier weg zu kommen.
Wie gerne hätte er nach seinen Kameraden gerufen, auf ihre Hilfe vertraut und sein Leben ihn ihre Hände gelegt. Doch wie oft hatte man ihnen allen eingebläut, dass man eben genau dies nicht tun durfte, wenn man in feindlichem Gebiet von seiner Truppe abgedrängt wurde. Linoj hätte beinahe aufgelacht, in feindlichem Gebiet. Es klang, als könnte man sich über eine Grenze retten, dem feindlichen Gebiet entfliehen und sich dann in Sicherheit wiederfinden. Nur gab es außerhalb des Weiten Tals nirgendwo Sicherheit. Alles war feindliches Gebiet. Ja, selbst die eigenen Lager waren in feindlichem Gebiet aufgeschlagen worden. Einen Ort, um zu verschnaufen, um die Waffen niederzulegen und zu Kräften zu kommen, einen solchen Ort gab es nicht.
Ein lautes Kreischen riss Linoj aus seinen trüben Gedanken. Wenn er überleben wollte, durfte es sich nicht ablenken lassen. Unaufmerksamkeit würde zu einem grausamen Tod führen. Auch wenn Linoj sich in manchen Momenten nichts sehnlicher wünschte, als den ganzen Schmerz hinter sich zu lassen und im Tod ein neues Leben zu finden, war er sich ziemlich sicher, dass er diese Reise nicht durch eine Fratze antreten wollte. Diese würde ihn zerreißen, ihm langsam und gemächlich eine Gliedmaße nach der anderen verstümmeln. Fratzen lechzten nach Blut, einen schnellen Tod schenkten sie nicht mal ihren eigenen Kriegern, geschweige denn ihren Feinden.
Es gab vieles, was Linoj aus seiner Heimat vermisste, eine Badewanne, einen vollen Magen, die Stimmen seiner Familie, und doch, wenn er etwas mit über die Unüberwindbaren Berge hätte nehmen könne, wäre es nichts davon. Nein, er würde Bäume mit sich nehmen, ganze Wälder, in denen man seine Feinde abschütteln konnte. Deren Laub einen tarnten, wenn man nicht schnell genug im Dickicht verschwinden konnte.
Nicht einmal Büsche gab es hier. Nur weite Ebenen, auf denen man sich selbst den Fratzen auf dem Präsentierteller servierte. Und die wenigen Geröllstücke boten auch nicht wirklich Schutz.
Wieder ein Kreischen. Dieses Mal lauter, dieses Mal näher. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis das Biest ihn entdeckte, wie er sich über den steinigen Boden schleppte und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Er stellte ein leichtes Ziel dar. Nur ein Wunder konnte ihn noch retten. Und Wunder waren hier selten genug.
Er wusste nicht, ob es ihn erleichtern sollte, dass er das Ende der Ebene erreicht hatte. Einerseits war er nicht mehr ganz so exponiert, andererseits erhob sich vor ihm ein Berg in die Höhe, die er in seinem Zustand unmöglich erklimmen konnte. In seiner Verzweiflung rollte er sich auf dem Boden am Fuß des Berges zusammen, versuchte mit dem Untergrund zu verschmelzen.
Er hörte nicht, wie der Wind ihm zuflüsterte,wie der Wind ihm anbot, die Monster auf eine andere Fährte zu leiten, wennLinoj ihm nur ein bisschen Magie schenken würde.
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Die Gerufenen
FantasyDer Auftakt der Fantasy-Dilogie «Die Gerufenen» Der Frieden im Weiten Tal ist gefährdet. Mit jedem Tag überwinden mehr Ungeheuer die schützende Bergkette und nicht einmal die schwer bewaffneten Truppen können die Sicherheit der Bewohner garantieren...