Einen Gerufenen zu trainieren war nicht immer leicht. Ganz im Gegenteil. Nicht, weil die Erklärungen, die man einem Novizen auf den Weg geben musste, kompliziert waren. Die Methoden, die die Akademie lehrte, waren schnell zu verstehen. Aber dann abzuwarten, bis der Novize die Grundsätze verinnerlichte und in jedem Abschnitt seines Lebens anwandte? Das erforderte Geduld. Unmengen an Geduld, die Myrax an Tagen wie diesen schlicht und einfach nicht besaß.
Er war drauf und dran Arox mit einem Schild eins über die Rübe zu ziehen und zu hoffen, den Gerufenen auf diese Weise zum Verstand zu bringen. Da er jedoch bezweifelte, dass er der erste war, dem diese Idee mehr als nur verlockend erschien, musste er davon ausgehen, dass jegliche Versuche bis jetzt keine Erfolge verzeichnet hatten und das wohl auch in Zukunft nicht tun würden.
Dass Arox nicht über die besten Strategien verfügte, was die Bewältigung intensiver Emotionen betraf, hatte er schon geahnt, als Arox sich nach dem Kampf gegen eine Fratze wie ein Dreijähriger geweigert hatte, auch nur in Betracht zu ziehen, an der Akademie zu lernen. Die vollen Ausmaße von Arox' unbelehrbarem Dickschädel lernte der elfte Meister jedoch erst jetzt kennen.
Vielen Novizen fiel es anfangs schwer sich an das Leben der Akademie einzugewöhnen. Immerhin wurde den jungen Frauen und Männer ein strikter Tagesplan auferlegt, der ihnen einiges an Disziplin abverlangte. Nicht gerade etwas, was Arox im Überfluss besaß.
Unglücklicherweise verfügte er aber über mehr als nur genug aufgestaute Wut, um sich selbst mit dem hintersten und letzten Novizen anzulegen. In der vergangenen Woche hatte Myrax schon dreimal eingreifen müssen, um zu verhindern, dass Arox nichts anstellte und ausversehen sich, seinen neusten Opponent oder gar die ganze Akademie mit seinem Ruf in die Luft jagte.
Myrax war wieder einmal kurz davor, dass Handtuch zu werfen und den Gerufenen des Wassers höchstpersönlich im See neben der Akademie zu ertränken (nicht, dass man einen Gerufenen des Wassers leicht ertränken konnte, aber Myrax kannte da das eine oder andere Geheimnis), als eine von Arox' Energiekugeln ihm beinahe ein Loch in die Brust brannte. Nur noch knapp hatte er die Energie ablenken können. Ein Busch im Innenhof der Akademie brannte lichterloh vor sich hin.
»Was ist los mit dir?«, erzürnte sich Myrax. »Das sind leichte Aufgaben, du hast sie schon gemeistert, als wir noch nicht mal an der Akademie angekommen sind und dennoch scheinst du plötzlich nicht mal mehr die Konzentration aufbringen zu können, um eine simple Energiekugel unter Kontrolle zu halten. Ich verlange eine Erklärung, wenn ich dich weiter trainieren soll.«
Wie zu erwarten murrte Arox nur leise vor sich hin. Er fühlte sich seinem Meister gegenüber offenbar zu keiner Rechenschaft verpflichtet.
»Lass die Energiekugel verschwinden«, befahl Myrax. Zu seinem eigenen Erstaunen leistete ihm der Gerufene des Wassers tatsächlich folge. Myrax war sich nicht sicher, ob er träumte.
»Ich kann dich nicht trainieren, solange du dich von deinen Emotionen derart einnehmen lässt. Kannst du keinen kühlen Kopf bewahren, ist es zu gefährlich deinen Ruf zu benutzen.«
»Ich wollte ihn ja nicht benutzen«, wandte Arox ein.
»Wir können dich davon befreien. Es gibt eine Möglichkeit jemandem seinen Ruf abzunehmen. Eine leichte Prozedur, die jederzeit durchgeführt werden kann, du musst nur Bescheid geben.« Myrax wusste nicht, ob es intelligent war Arox von dieser Möglichkeit zu erzählen. Solange dieser noch nicht besser trainiert war, konnte der Meister nicht testen, ob es sich bei seinem Novizen um den wahren Gerufenen des Wassers handelte. Würde sich Arox dazu entscheiden, seinem Ruf zu entsagen, wäre seine Entscheidung endgültig. Jemandes Ruf verstummen zu lassen war ein Leichtes. Ihn dann wieder herzustellen unmöglich. Und wäre Arox der wahre Gerufener der Elemente, der sich gegen seinen Ruf entschied, würde Myrax' letzte Hoffnung für die Rettung des Weiten Tals vernichtet sein. Er hoffte also sehnlichst, dass Arox seine Kräfte nicht aufgeben würde. Solange der junge Mann jedoch gegen seinen Ruf ankämpfte, als wäre er die Pest schlechthin, konnte er trotz jeglichem Training nicht zum vollwertigen Gerufenen werden.
»Warum sagst du mir erst jetzt, dass man seinen Ruf loswerden kann«, forderte Arox zu wissen.
»Weil ich wusste, dass du noch am ersten Tag von mir verlangt hättest, dass Ritual durchzuführen. Ich musste sichergehen, dass du erst alle deine Möglichkeiten kennst, ehe du eine Entscheidung fällst.« Myrax war froh, dass Arox noch nicht viel mehr heraufbeschwören konnte als Energiekugeln. Dennoch flog er einige Meter zurück, als ihn die Magie in die Magengrube traf.
»Du hast kein Recht für mich zu entscheiden!«, brüllte Arox. Myrax wunderte sich, ob es irgendeine Möglichkeit gab, wie die Konversation hätte besser laufen können. Er bezweifelte es. Er verzeichnete es als einen Sieg seinerseits, dass Arox nicht seine gesamte Energie gegen ihn eingesetzt hatte. Der Novize schien sich zurückzuhalten, wenn auch vielleicht nur unbewusst.
»Ich habe keine Entscheidung für dich getroffen, Arox. Du wusstest von Anfang an, dass es dir freisteht, ob du an der Akademie lehren willst. Ja, ich habe dir verschwiegen, dass ich dir deinen Ruf abnehmen kann, wenn du es wünschst, aber nicht, weil ich dir diese Möglichkeit verwehren wollte. Aber ja, ich habe mich dazu entschieden, den Zeitpunkt deiner Entscheidung auf Erste herauszuschieben. Vielleicht hatte ich kein Recht dazu, aber ich würde nicht anders handeln, selbst wenn ich könnte.«
Myrax war sich ziemlich sicher, dass Arox' nächste Energiekugeln ihn gegrillt hätten, wäre nicht in eben diesem Moment eine Wache des Stadttores auf den Innenplatz gestürzt.
»Meister! Meister!«, rief die Wache, eine Frau, die wie er mit einem Ruf der Kampfkunst gezeichnet war. Myrax kannte sie schon seit über zwanzig Jahren und noch nie hatte er sie derart außer Atem erlebt. Nicht mal, als ein Novize in einem Übungskampf die gesamten Stallungen in Brand gesetzt hatte.
»Meister, da ist jemand vor den Toren, der...«, brachte sie hervor. Sie schien nervös zu sein. Myrax wollte sich gar nicht vorstellen, was die erfahrene Kämpferin aus ihrer sonst so stoischen Fassung bringen konnte.
»Der was?«, fragte Arox. Der Meister hatte seine Anwesenheit schon fast vergessen. Wie schnell sich doch Prioritäten neu sortieren konnten.
»Der behauptet ein Gerufener der Erde zu sein.«
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Die Gerufenen
FantasyDer Auftakt der Fantasy-Dilogie «Die Gerufenen» Der Frieden im Weiten Tal ist gefährdet. Mit jedem Tag überwinden mehr Ungeheuer die schützende Bergkette und nicht einmal die schwer bewaffneten Truppen können die Sicherheit der Bewohner garantieren...