Als Myrax das Stadttor von Avin durchschritt, hätte er vor Erleichterung laut aufseufzen können. Er war sich durchaus bewusst, dass Arox aus eigenem Willen an die Akademie finden musste, aber der elfte Meister wusste nicht, was er getan hätte, hätte der Gerufene des Wassers sich gegen sein Angebot entschieden.
So sehr ihm der junge Mann anfangs auch missfallen war, konnte Myrax nicht leugnen, dass er großes Potential besaß. Auch wenn es ohne eine magische Prüfung keinen Weg gab, zu erkennen, ob es sich bei Arox um den wahren Gerufenen des Wassers handelte, hätte Myrax sein Leben darauf verwettet. Na gut, vielleicht nicht sein Leben, aber einen seiner zwei Rufe.
»Ich freue mich, dass du mich begleitest«, begrüßte er den verlorenen Gerufenen, der bald kein verlorener Gerufener mehr sein würde. Myrax hatte nicht erwartet, dass Arox ihm in die Arme fiel oder sich gar für die Möglichkeit bedankte, aber er hatte auch nicht damit gerechnet, dass dieser ihn mit keinem Blick würdigte, sondern weiter regungslos in die Ferne starte.
Der Arox vor ihm erinnerte ihn an den Arox, den er vor Wochen nach einem Fratzenangriff zusammengeflickt hatte, den starrsinnigen, in sich zurückgezogenen Arox, und nicht der lehrbegierige Gerufene, der Energiekugeln kontrollierte und ihn über die Akademie ausfragte.
Myrax konnte unmöglich wissen, was vorgefallen war. Er konnte nur hoffen, dass nicht alle Fortschritte verloren waren, die er bei dem Gerufenen erreicht hatte. Er sagte sich selbst, dass Arox' Entscheidung ihn zu begleiten wenigstens ein kleiner Schritt in die richtige Richtung bedeutete, wenn auch nichts im Verhalten des jungen Mannes darauf hindeutete, dass er sich auf seine Ernennung zum Novizen freute.
Schweigend ging der elfte Meister auf den Gerufenen des Wassers zu und nahm ihm einen der beiden Jutesäcke ab. Er selbst reiste nur selten mit Gepäck, dann konnte er dem Gerufenen beim Tragen seiner Habseligkeiten helfen. Er hatte schon öfters angehende Novizen zur Akademie begleitet und doch wunderte er sich jedes Mal auf ein Neues, wenn niemand erschien, um den Gerufenen zu verabschieden.
»Die Akademie ist von hier etwa drei Tage Fußmarsch entfernt«, erklärte er, ohne von dem Gerufenen eine Antwort zu erwarten. »Ich hoffe es macht dir nichts aus, zwei Mal im Freien zu übernachten. Ich schlage lieber mein eigenes Lager auf, als in fremden Unterkünften zu übernachten.«
Arox blieb stumm, ging jedoch zügig neben dem Meister her. Wie gerne hätte Myrax ihn gefragt, was ihn beschäftigt, doch er vermutete, die Situation dadurch nur schlimmer zu gestalten. Arox schien ihm nicht gerade die Art Mensch zu sein, die es genoss seine Probleme im Gespräch mit einem anderen zu diskutieren.
»Kennst du die Legende der Unüberwindbaren Berge?«, begann er, fuhr jedoch ohne eine Antwort abzuwarten fort. »Entgegen so manchen Geschichten sind die Unüberwindbaren Berge keineswegs unüberwindbar. Im Gegenteil, es gibt nicht wenige Wege, die sich durch die Schluchten schlagen, bis hoch hinaus über die Bergwipfel hinweg.
Ursprünglich hießen sie auch ganz anders. Die Erionen nannte man sie. Ein Wort, das die Jahrhunderte überdauert hatte, selbst nachdem die Sprache längst in Vergessenheit geraten war. Erion bedeutet so viel wie 'der, der mit den Sonnen spielt'. Ein wahrlich passender Name.«
Mit keiner Geste gab Arox ihm zu verstehen, dass er ihn hörte, doch Myrax fuhr ohne sich davon in die Irre leiten zu lassen fort. Er konnte die Stille nicht ertragen.
»Manch einer machte sich auf, um die Gipfel zu erklimmen und die Welt dahinter zu entdecken, nie kehrte einer zurück. Erst als die Armee des Weiten Tals aufbrach, um das Geheimnis der Erionen zu lüften, überlebten die ersten Menschen die Reise außerhalb des Weiten Tals. Und zum ersten Mal wurden die Geschichten davon erzählt, was hinter der Bergkette lauerte. Du bist einem der Wesen selbst vor Kurzem begegnet.
Fratzen. Tausende und abertausende von ihnen. Die Welt außerhalb gehört ihnen allein, kein anderes Wesen überlebt lange. Leider blieben die Folgen der Entdeckung der Fratzen nicht aus. Die Wesen begannen den Menschen zu folgen, lauerten ihnen auf, wenn sie die Wege zwischen den Bergen erklommen. So gelangten die ersten Fratzen ins Weite Tal.
Solange sie alleine unterwegs sind, kann man sie bezwingen, sie in die Enge treiben und überwältigen, aber sobald mehrere Fratzen zusammen kämpfen, kann man sie kaum noch aufhalten.«
»Kann man sie nicht davon abhalten, sie Berge zu durchqueren?«, fragte Arox. Sein Gesichtsausdruck war noch immer finster und verschlossen, doch Myrax zählte es als Gewinn, dass der Gerufene des Wassers ihm überhaut zugehört hatte.
»Die Armee des Weiten Tals sind in die Berge ausgeströmt, sie kämpfen dafür, dass so wenige Wesen wie nur möglich auf die andere Seite gelangen. Jahrzehnte lang konnten sie den Fratzen standhalten. Doch dann, vor einigen Jahren, begannen die Fratzen in Gruppen zu kämpfen. Sehr ungewöhnlich, da sie normalerweise Einzelgänger sind. Zusätzlich waren sie plötzlich im Stande Waffen zu schmieden. Bis jetzt kann sich niemand erklären, warum sie ihre Verhaltensweise geändert haben, aber...«
»Aber was?«
»Aber es scheint beinahe als würde ihnen jemand helfen. Jemand, der mit Kriegsstrategien und Waffenherstellung nur zu gut vertraut ist. Jemand, der die Vorgehensweise des Weiten Tals so gut kennt, dass die Fratzen stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind. Jemand aus dem Weiten Tals selbst, der sich nicht davor scheut, seine Heimat zu zerstören.«
»Ein Gerufener?«
Myrax seufzte. Nicht gerne gab es zu, wie hoch die Wahrscheinlichkeit lag, dass es sich bei dem Verbündeten der Fratzen um einen Gerufenen handelte. Die letzten Gräueltaten der Gerufenen lagen weit in der Vergangenheit, doch noch immer litten die Gerufenen unter den Konsequenzen, obwohl die beteiligten Parteien seit Generationen in Gräbern ruhten. Der elfte Meister konnte sich nicht vorstellen, wie es sich auf das Weite Tal auswirken würde, wenn herauskäme, dass es einen Gerufenen gab, der willentlich Monster in das Tal leitete.
»Vielleicht«, gab es dennoch zu. »Vielleicht ein Gerufener, vielleicht ein Bewohner, vielleicht etwas, von dem wir noch nicht einmal wissen, dass es existiert.«
Schweigend gingen die beiden Männer weiter. Jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nachgehend. Erst Stunden später, Pulz war schon hinter den Bergen verschwunden, stellte Arox die Frage, die ihm auf der Zunge brannte: »Warum nennt man sie dann die Unüberwindbaren Berge, wenn man sie doch so leicht überwinden kann?«
»Weil man sie nie hätte überwinden sollen.«
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Die Gerufenen
FantasyDer Auftakt der Fantasy-Dilogie «Die Gerufenen» Der Frieden im Weiten Tal ist gefährdet. Mit jedem Tag überwinden mehr Ungeheuer die schützende Bergkette und nicht einmal die schwer bewaffneten Truppen können die Sicherheit der Bewohner garantieren...