Thoma

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Thoma wusste nicht, warum Bruder Jeroen ihn in sein Arbeitszimmer hatte rufen lassen. Er hatte sich um die Schafe gekümmert, sie von der Weide geholt und gefüttert. Er hatte die goldenen Schüsseln für die Messe poliert und dabei sorgsam darauf geachtet auch jede der Schalen mit ihrem korrekten Namen anzusprechen, obwohl sie sich aus seiner Sicht nicht groß von den Frühstücksschalen unterschieden, aus denen die Novizen ihren Brei aßen.

Und er hatte sein Versprechen gegenüber Brek gehalten und sich nicht mit dem Feuer erwischen lassen. Nur nachts, erst nachdem einer der Brüder die letzte Kontrollrunde beendet hatte, hatte Thoma die Kerze unter der Matratze hervorgekramt und die kleine Flamme tanzen lassen.

Manchmal hatte Brek sich aus dem Diensttrakt geschlichen, um mit ihm die Kerze zu beobachten. Thoma wusste nicht, ob er es mochte, wenn Brek ihm Gesellschaft leistete. Einerseits fühlte er sich viel sicherer, wenn sein Freund auf die Tür achtete und nach Schritten auf dem Gang lauschte. Andererseits wusste Thoma auch, dass Brek in riesige Schwierigkeiten geraten konnte, wenn man seine Abwesenheit bemerkte.

Während Thoma auf dem Hocker im Arbeitszimmer auf Bruder Jeroen wartete, füllten sich seine Gedanken mit all den Möglichkeiten, wie er oder Brek hätten erwischt werden können.

»Thoma«, sprach Bruder Jeroen feierlich, als er das Zimmer betrat. »Ich nehme an, du wunderst dich, warum ich dich zu mir gerufen habe.« Der junge Novize nickte nur und versuchte mit keiner Bewegung zu verraten, dass er davor fürchtete, was der Priester zu sagen hatte. Brek hatte ihm das beigebracht. Angst zu haben war ganz normal, aber man durfte nicht immer zulassen, dass jeder seine Angst sehen konnte. Das würde ihn zu einem leichten Ziel machen, hatte Brek erklärt, auch wenn Thoma nicht verstanden hatte, warum Ehrlichkeit dazu führte, dass man auf dem Hof Dreckklumpen nach ihm warf.

»Ich möchte dir ein Angebot unterbreiten.« Bruder Jeroen begann die Stifte auf seinem Schreibtisch an seiner Kutte zu polieren. Er hatte es schon an Thomas ersten Tag im Kloster getan und schuldete dem jungen Novizen bis heute eine Erklärung, warum er dies tat.

»Was für ein Angebot?«, traute sich Thoma zu fragen. Auch wenn Bruder Jeroen ihm so manche Standpauke gehalten hatte, wenn er sich nicht auf die Messe konzentrierte oder nichts essen wollte, war ihm der Priester nie böse gewesen, wenn er viele Fragen gestellt hatte.

»Du bist nun schon lange genug im Kloster, um mit unserem Glauben und unserer Lebensweise bekannt zu sein. Die Menschen im Weiten Tal hingegen, vergessen immer mehr, dass die Götter sie noch immer lieben und beschützen. Wir werden vereinzelte Novizen hinaus in das Weite Tal schicken, sodass sie den Menschen helfen können, die ihre Hilfe nötig haben. Ich möchte dich mit dieser Mission betrauen.«

Thoma hatte schon immer davon geträumt, den Menschen helfen zu können. Doch er brachte mehr Informationen, um sich entscheiden zu können. Mehr Details, um zu wissen, wie er in verschiedenen Situationen vorzugehen hatte. »Was, wenn jemand nicht an die Götter glaubt?«

Bruder Jeroen lächelte. »Den Göttern ist es gleichgültig, ob wir an sie glauben oder nicht. Sie halten ein wachsames Auge über jeden Mann, jede Frau und jedes Kind. Wir tun es ihnen gleich und bieten jedem unsere Hilfe an, was ein jeder glaubt, ist zweitrangig.«

Thoma traute sich kaum seine nächste Frage zu stellen: »Was ist mit Gerufenen? Was wenn ein Gerufener um Hilfe bittet?«

»Was ein jeder glaubt, ist zweitrangig«, wiederholte Bruder Jeroen voller Überzeugung. Thoma überlegte sich, ob er dem Priester von seinem Geheimnis erzählen sollte, entschloss sich aber dagegen. Erst wollte er Brek von seiner Konversation erzählen und ihn um seine Meinung bitten.

»Du musst dich nicht sofort entscheiden«, ergriff Bruder Jeroen erneut das Wort. »Falls du beschießt, die Mission anzunehmen, wirst du in einer Woche aufbrechen und bis dann kannst du jederzeit eine Entscheidung fällen oder auch deine Meinung ändern. Diese Mission ist kein Befehl, sondern eine Möglichkeit, die du annehmen oder ablehnen kannst.«

Thoma bedankte sich und verließ das Arbeitszimmer, so schnell in seine Beine trugen. Wäre er nicht so sehr damit beschäftigt gewesen, die Vor- und Nachteile dieser Mission gedanklich aufzulisten, hätte er sich darüber gefreut, dass er weder sich noch Brek in Schwierigkeiten gebracht hatte.

Er ließ sich draußen, neben der leeren Schafsweide ins Gras sinken, den Rücken gegen einen der Holzpfosten gelehnt. Einerseits konnte er sich nichts Besseres vorstellen, als den Menschen zu helfen. Andererseits fürchtete er sich davor das Kloster zu verlassen. Sich mit Fremden zu unterhalten, war noch nie eine seiner Stärken gewesen und im Weiten Tal gab es furchtbar viele Fremde.

Es dauerte nicht lange, ehe Brek ihn fand. Thoma wunderte sich schon lange nicht mehr, wie Brek ihn fast überall in kürzester Zeit aufspüren konnte. Bauchgefühl, nannte es sein Freund, doch Thomas Bauch sagte nur was, wenn er hungrig war oder die Schafsmilch trinken musste, die er so ganz und gar nicht mochte.

»Über was denkst du nach? Ich kann deinen Kopf beinahe rauchen sehen?«, begrüßte ihn Brek.

»Ich rieche keinen Rauch.« Was auch immer Thoma nicht verstanden hatte, es brachte Brek zum Lachen und der Novize hatte gelernt, dass er es mochte, wenn Brek lachte, während er es ganz und gar nicht mochte, wenn seine Mitnovizen sich über ihn lustig machten.

»Bruder Jeroen hat mir ein Angebot gemacht«, erklärte Thoma und wiederholte sein Gespräch mit dem Priester für Brek. Dieser hörte aufmerksam zu und Thoma konnte nicht umhin zu bemerken, dass sein Freund ganz aufgeregt wurde, je mehr er von der Mission erfuhr.

»Durch das ganze Weite Tal!«, rief er aus. »Du kannst all die Orte erkunden, oh und die Hauptstadt! Ich war nie da, aber ich habe gehört, dass sie wundervoll sein soll. Voller Überraschungen und Dingen, die man noch nie gesehen hat!«

»Du meinst also, ich soll die Mission annehmen?«

Brek, der sich noch immer eine Reise durch das Weite Tal ausmalte, verstummte augenblicklich. Er dachte nach und Thoma ließ ihm die Zeit, die er brauchte. »Ich glaube, dass du das selbst entscheiden musst. Aber falls du dich entscheidest dich aufzumachen, werde ich Jeroen überreden, dass ich dich begleiten darf. Genauso wie ich hierbleiben werden, wenn du es tust. Wie auch immer du entscheidest, ich bin dabei.«

»Bruder Jeroen«, korrigierte Thoma automatisch. »Und danke«, fügte er hinzu. »Ich möchte gerne in das Weite Tal hinaus, um den Menschen zu helfen, aber ich weiß nicht, ob mich die Menschen mögen werden. Ich bin nicht gerade... ein menschlicher Mensch.«

»Du bist der menschlichste von uns allen. Aber du brauchst dir keine Sorgen deswegen zu machen. Ich stell dir zur Seite und Fremde vertrauen mir schnell.«

»Vielleicht schneller als sie sollten«, wandte Thoma ein und war sehr stolz darauf, dass er erfolgreich einen Witz gemacht hatte. Und das nicht nur ausversehen.

»Ein Abenteuer, Thoma, das wird ein Abenteuer!«, schwärmte Brek. »Und wenn wir nebenbei eine Frau für dich und einen Mann für mich finden, sag ich auch nicht nein.«

Augenblicklich fühlte Thomas Magen sich an wie nach Schafsmilch. Es hätte jemanden einen Knoten hineingemacht, obwohl das anatomisch gar nicht möglich war. »Ich mag keine Frauen. Nicht so.«

»Na, denn eben auch einen Mann. Es gibt genug davon«, lachte Brek und zwinkerte schelmisch. Für einen Moment zögerte Thoma, ehe er antwortete.

»Die mag ich aber auch nicht. Nicht so«, gab Thoma kleinlaut zu. Oft hatte er gehört, wie die Novizen sich darüber austauschen, wenn sie interessant fanden. Einmal hatten sie Thoma nach seiner Meinung gefragt. Vor lauter Schock hatte er auf eine willkürliche Novizin gezeigt, die ihm einmal geholfen hatte, den Schafsstall auszumisten. Er hatte sich nicht getraut zu sagen, dass er sich für niemanden interessierte. Nicht so.

»Oh«, meinte Brek nur.

»Ist das seltsam?«

Wieder dachte sein Freund ein paar Sekunden nach, ehe er antwortete: »Nicht üblich vielleicht, aber keineswegs seltsam.«

»Mit mir ist also nicht... falsch?«

Aufmunternd legte Brek einen Arm um Thomas Schulter und lächelte. »Mit dir ist alles in bester Ordnung, Thoma, versprochen. Lass dir von niemandem was anderes erzählen, mit dir ist alles in allerbester Ordnung.«

Die GerufenenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt