25 - Der perfekte Freund

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Stillschweigend stapfte ich die Straße entlang. Meine Frustration hielt jedes Wort zurück, das mir durch den Kopf schwirrte. Ein Ziel hatte ich nicht. Ich wollte einfach nur so weit wie möglich weg von meiner Mutter. Im Moment fielen mir viel zu viele Schimpfwörter ein, die ich ihr gerne an den Kopf knallen würde.

Mein Atem war schwer und meine Hände zitterten vor Wut.

Ich hatte es gewusst. Ich hätte Nils gar nicht erst meiner Familie vorstellen dürfen. Ich wusste, dass meine Mutter ihm nie eine Chance geben würde. Ich hätte Nils das alles ersparen können. Ich hätte mich niemals darauf einlassen sollen.

„Hey, jetzt warte doch mal!", ertönte Nils' Stimme.

Sein Griff um meine Hand wurde fester und zwang mich zum Stehenbleiben. Ich drehte mich jedoch nicht um. Ich wollte weder sein enttäuschtes Gesicht sehen, noch wollte ich ihm meine Wut präsentieren. Er hatte sich das bestimmt auch anders vorgestellt gehabt.

„Komm schon, guck mich an!"

Er legte sanft seine Hand auf meine Schulter und drehte meinen Oberkörper zu sich. Mein Blick war auf den Boden gerichtet. Ich schämte mich. Ich schämte mich für meine Mutter.

„Es ist nicht deine Schuld", sagte er sanft und zog mich in eine Umarmung.

Es gab nichts Besseres als die Umarmung des eigenen Freundes, wenn man sich selbst gerade richtig Scheiße fühlte.

„Ich hätte es wissen müssen", murmelte ich leise.

Nils strich mir über meine Wange. Einerseits liebte ich seine Berührung, doch auf der anderen Seite fühlte ich mich schlecht. Ich hatte ihn gar nicht verdient. Vielleicht hatte meine Mutter sogar Recht und ich war einfach nicht gut genug für ihn. Seine Familie war schließlich so perfekt und meine war das genaue Gegenteil. Ich fühlte mich als Versagerin.

„Es war gut, dass ich heute da war. So haben wir es wenigstens versucht", munterte ich mich auf oder versuchte es zumindest.

Noch immer schloss seine Arme mich in eine liebevolle Umarmung. Wie konnte ein Junge so perfekt sein. Es war, als würde er immer ganz genau wissen, was ich gerade brauchte.

„Ich versteh gar nicht, was du eigentlich an mir findest", kam es plötzlich über meine Lippen. Ich hatte nicht geplant das zu sagen, doch nun hingen diese Worte in der Luft und mein Drang das auszuführen, war nicht mehr zu stoppen. „Ich meine, du bist gutaussehend, beliebt, schlau, sportlich und hast eine perfekte Familie. Ich hingegen bin durchschnittlich hübsch, freu mich über jede Zwei auf meinem Zeugnis, habe nur zwei beste Freunde und eine Familie, die in Trümmern liegt. Außerdem bin ich pleite und zwar immer. Ich bin sogar richtig arm. Was willst du eigentlich von mir? Du könntest so viele andere haben, die so viel besser sind als ich. Warum ich? Das macht gar kein Sinn!"
Bei den letzten Worten hatten meine Augen sich plötzlich entschieden Tränen zu produzieren.

„Was redest du da?", sagte Nils nun erstaunlich ernst. „Du bist hübsch, aber ist nicht der Grund, warum ich mich in dich verliebt habe." Er sah mir nun in die Augen und ich wusste, dass er damit ausdrücken wollte, wie wichtig ihm folgende Worte waren. „Du bist schlau und witzig. Ich habe noch keine Person zuvor kennengelernt, bei der ich mich so wohl fühle. Ich könnte Stunden lang neben dir sitzen, ohne ein Wort zu sagen und würde mich trotzdem nicht unwohl fühlen. Auf der anderen Seite könnte ich mit dir aber auch die gesamte Nacht über wach legen und über Gott und die Welt reden. Mit keiner anderen Person auf dieser Welt kann ich so viel lachen wie mit dir. Wenn du nicht da bist, denke ich ständig an dich. Wirklich, ständig. Ich frage mich, wie es dir geht und was du gerade machst. Seit ich dich kennengelernt habe, gehst du mir nicht mehr aus den Kopf. Mir ist egal, ob deine Familie mich mag oder nicht oder ob du viel Geld hast oder nicht. Hauptsache du magst mich. Denn ich mag dich mehr als andere auf dieser Welt. Ich will keine andere. Ich will dich."

Seine romantische Rede konnte meinen Tränenfluss nicht stoppen. Doch aus Selbstmitleidstränen, wurden nun Tränen der Rührung. Das war das Süßeste, das je jemand zu mir gesagt hatte.

„Ich liebe dich auch", nuschelte ich und presste meinen Körper an seinen. Ich wollte ihn nie wieder loslassen. Am liebsten würde ich ihm ein Schild umhängen mit der Aufschrift „Nicht anfassen, der gehört mir! Und zwar bis ich sterbe! Also Finger weg!"

Ein kleines Lächeln umspielte Nils' Mundwinkel. Dann küsste er mich auf die Stirn.

„Du solltest jetzt zurückgehen."

Mein Kopf schoss nach oben und ungläubig sah ich ihn an. Das war der Momentkiller Nummer eins.
„Du meinst zurück zu meiner Mutter?"

„Ja. Ich glaube, ihr habt so einigen Redebedarf.".

„Einen Teufel werde ich tun!", sprudelte es aus mir heraus.

„Johanna, ich weiß, dass du wütend auf sie bist, aber sie ist deine Mutter und wir beide wissen, dass sie dich liebt. Rede mit ihr ganz in Ruhe. Ich glaube, sie war vorhin einfach überrumpelt."
Ich stemmte wütend meine Hände in meine Hüfte. Das war doch jetzt nicht wahr.

„Das ist trotzdem kein Grund so über dich zu urteilen."

„Ist es auch nicht", lenkte er sofort ein. „Aber keiner von uns ist perfekt, oder? Machen wir nicht alle mal Fehler? Gib ihr eine zweite Chance!"

Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Diese schlauen Worte konnte er sich echt sparen.
„Wieso bist du so nett? Das hat sie nicht verdient."

Er zuckte mit den Schultern und schien darauf selbst keine Antwort zu haben.

Ich sah zu meinem Elternhaus, das gut 30 Meter von uns entfernt war. Ich erblickte meine Mutter am Fenster. Sie sah mir direkt in die Augen. Ich erschrak bei dem Anblick.

Und sie weinte.

Ich hatte meine Mutter zwar schon oft weinen gesehen, aber sie sah noch leidender als sonst aus und das machte mir tatsächlich Sorgen.

Ich atmete einmal tief ein.

„Okay, ich geh zu ihr."

Nils nickte aufmunternd.
„Das ist die richtige Entscheidung. Glaube mir." Er küsste mich sanft auf die Lippen. „Willst du, dass ich hier draußen auf dich warte?"

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, ist schon gut. Das kann eventuell länger dauern. Ich ruf dich nachher an, okay?"

Er nickte und es folgte ein erneuter Kuss. Ich würde mich nie daran gewöhnen, dass jemand so perfektes tatsächlich in mich verliebt war. Wie hatte ich das nur geschafft?

Mit schweren Beinen schlürfte ich zurück zum Haus. Eigentlich hatte meine Mutter keine zweite Chance verdient. Warum tat ich das hier überhaupt?

Ich sah wieder zum Fenster, doch dieses Mal stand sie nicht mehr da. Mit einem lauten Knarren öffnete ich die Tür und erschrak, als meine Mutter kreidebleich vor mir stand. Lediglich die rotunterlaufenen Augen gaben ihrem Gesicht etwas Farbe. Sie sah aus wie ein Geist.

„Wir müssen reden", erklang ihre Stimme schwach.

„Du bist mir eine Erklärung schuldig!", sagte ich im Befehlston. Ich wollte ihr nicht das Mitleid geben, das sie von mir einforderte.

„Ich weiß", flüsterte sie mit schwacher Stimme.

Sie nahm meine Hand und führte mich die Treppen herauf in ihr Schlafzimmer. Ich ließ es geschehen. Wir setzten uns nebeneinander auf das Bett. Auf dem Boden Spielzeug von Magda und die dreckige Wäsche meiner Mutter.

„Hör mir einfach zu, okay? Ich werde dir alles erklären. Ich hätte es schon längst tun sollen."

Nun bekam ich Angst. Ich konnte spüren, wie angespannt meine Mutter war.

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