Elvira (X)

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Wir sitzen im Wohnzimmer am kleinen Esstisch und stopfen uns unser Frühstück in den Mund, das aus Brot, Käse, Marmelade, Mineralwasser und Eiern besteht, damit es in meinen Magen gelangt und meinen Hunger stillt. Eigentlich habe ich keine Lust etwas zu essen, aber ich tue es, damit ich Andre nicht anschauen muss, da sonst wieder zahlreiche Gedanken auftauchen. Ich konzentriere mich ganz auf das belegte Käsebrot und beiße immer nur kleine Bisse ab, so dass ich Zeit schöpfen kann. Ich will, dass der Tag so schnell wie möglich vorübergeht, damit ich wieder ins Bett und diese unangenehme Atmosphäre verlassen kann. Es ist wirklich zum Kotzen.

Zuerst diese Dummheit, die ich begangen habe und jetzt essen wir nebeneinander, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Mein Blick wandert zu ihm. Zu dem Mann, den ich liebe. Er wirkt gut gelaunt und fröhlich. Er isst und liest irgendwelche Nachrichten in seinem Handy, die er zugleich beantwortet. Anscheinend empfindet er kein Unbehagen am Esstisch.
Wohingegen ich wegen meiner Nervosität mein Glas hin und her schiebe. Nach einiger Zeit nehme ich einen Schluck, um das Brot, das in meinem Hals steckt, besser durch meine Röhre zu befördern. Es klappt.

Ich blicke Andre an und schiebe eine Haarsträhne hinter mein Ohr. Wird es jedes Mal mit ihm so sein? Während meines ganzen Aufenthaltes in diesem Haus hat er mich öfters geschlagen und mir seelisch wehgetan, aber zugleich hat er mir seine schönste Seite gezeigt, die mich vollkommen berührt und mein Herz zum Schlagen gebracht hat. Ich habe so oft Kopfschmerzen gehabt und die Nächte habe ich oft durchgeweint. Doch dann gab es in unserer Beziehung Momente, die mich sehr in seine Welt gezogen haben. Schließlich habe ich mich verliebt, obwohl es den Umständen entsprechend nicht die beste Idee gewesen ist. Wenn man es genauer betrachtet, ist er noch immer mein Entführer, der mich kontrolliert und mir jegliche Freiheit nimmt - oder ist er doch mein Geliebter? Zwar hat in letzter Zeit wegen mir viele Regeln umgeändert, trotzdem ist es nicht gut genug. Aber ich kann doch nicht zu viel von Andre erwarten, oder? Er liebt mich und ich liebe ihn. Das muss reichen... Wenigstens für den Moment.

Plötzlich steht Andre auf und sagt mir, dass er jetzt duschen gehen wird. Ich nicke und esse die letzten Reste auf, bevor ich mich dann von meinem Platz erhebe und durch den Flur laufe, um mich anderweitig zu beschäftigen. Jetzt, wo ich wieder alleine bin.

Irgendwann, ohne es zu bemerken, stehe ich vor der Haustür, doch in meinen Augen scheint diese zu glänzen. Ich frage mich, ob die Tür verschlossen ist oder nicht. Es kann ja sein, dass Andre die Tür offen gelassen hat, da er mir vertraut und keine Befürchtungen hat, dass ich abhauen könnte. Aber andererseits könnte es auch das Gegenteil sein.  Möglicherweise ist die Tür ja doch  zu... Sollte ich es testen? Sollte ich die Tür öffnen, um zu sehen, ob Andre mir vertraut oder nicht? So könnte ich mehr über Andre herausfinden. Wie er wohl über all das denkt? Doch es kann ebenso sein, dass ich erwischt werden könnte, dann bin ich verloren. Andre wäre sauer und ich wäre mit blauen und grünen Flecken markiert. Das kann ich nicht riskieren. Darüber sollte ich auch nicht denken, aber ich kann nicht anders. Meine Gedanken machen, was sie wollen und das gefällt mir nicht.

Meine Hand schwebt zum Türknopf und liegt unbeweglich darauf. Ich zittere. Es fühlt sich komisch an, da auf der anderen Seite die Realität versteckt ist, die ich seit langem nicht gesehen habe. Nur ein kleiner Schubs... ein zusätzlicher Druck nach unten und die Tür wäre offen. Ich muss nur...

Urplötzlich schlingen sich zwei starke Arme um meine Hüften. Mein Herz rast gewaltig, ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Verdammt, ich habe es versaut. Er hat mich erwischt. Mir kommen die Tränen hoch. Was wird er jetzt tun?

,,Elvira, was suchst du hier?", fragt er, aber ich bin mir sicher, dass er schon weiß, was ich vorhatte. Wegen meiner Angst schlucke ich; mein Mund ist trocken.

,,I-Ich... Ich w-wollte n-nur...", stottere ich und schaue auf den Boden. Muss ich wirklich jedes Mal Angst vor Andre haben? Funktioniert so eine Beziehung? 

,,Hmm... meine Schöne", sagt er, während er sein Gesicht in meine Haare presst, um meinen Geruch aufzunehmen. Unbeweglich starre ich auf meine Füße. Was wird er jetzt tun? Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass er wütend ist. Vermutlich spielt er mir etwas vor, bevor er mich vernichtet und in mein Zimmer bringt. Doch nichts dergleichen passiert. Er löst die Umarmung und dreht mich stattdessen um, damit er mir ins Gesicht schauen kann.

,,Heute gehen wir feiern... Ich würde dir gerne jemanden vorstellen."

Meine Augen weiten sich. Hat er das wirklich gesagt? Er will mit mir rausgehen? Und wer ist diese Person, die er mir vorstellen möchte? Eine Frau oder ein Mann? Vielleicht ein weiterer Verwandter? Nein, ich glaube nicht, dass er mir jemanden aus seiner Verwandtschaft vorstellen möchte. Vielleicht ein Bekannter oder ein Freund? Das könnte gut sein.

Ich nicke und lächle ihn an. ,,Gerne", sage ich. Andre strahlt und küsst mich, bevor er dann verschwindet und mich alleine lässt. Ich entferne mich von der Tür und ziehe mich um.

Um 20 Uhr stehe ich vor der Haustür und warte auf Andre. Ich trage ein schwarzes, kurzes Kleid, da wir ja feiern gehen wollen. Dennoch habe ich darauf geachtet, dass es nicht zu freizügig ist. Zusätzlich habe ich eine Jacke, die mich vor allem schützen kann, wenn etwas passiert. Außerdem habe ich meine Haare offen, und gewellt, damit ich ansatzweise gut aussehe. Dies müsste reichen.

Andre hingegen, der gerade zu mir läuft, hat sich nicht wirklich groß verändert. Er trägt eine blaue Jeans und ein weißes Hemd, das er hochgekrempelt hat. Seine Haare sehen durcheinander aus, dennoch lässt es ihn attraktiv aussehen. Er ist einfach toll.

Nun stehen wir vor der Tür. Ich bin nervös, wohingegen er Selbstsicherheit ausstrahlt. Wie macht er das nur? Ich kaue auf meiner Unterlippe, um mich irgendwie abzulenken. Heute werde ich das Haus verlassen und wieder Menschen sehen, die nicht Andre sind. Ich bin überglücklich.

Andre kommt zu mir und hält meine Hand, um mich seelisch zu unterstützen - denke ich jedenfalls. Ich grinse und drücke seine Hand leicht.

,,Mach die Tür auf", befiehlt er. Ich schaue ihn erstaunt an und nicke schnell. Er lässt mir den Vortritt. Wie nett! Ich lege meine Hand auf den Türknopf und drücke zu.

Klick.

Die Tür ist offen und gewährt mir einen Blick in die Dunkelheit. Mein Herz klopft schneller, da die verdammte Tür offen ist. Ich nehme einen tiefen Atemzug, frische und kalte Luft strömt in meine Lunge. Ich bekomme eine Gänsehaut.  Das ist die Freiheit...

UnheilWo Geschichten leben. Entdecke jetzt