Ein Ende mit Schuss (Teil 1)

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Jacob

Die Cola-Dose zerknitterte mit einem knisternden Geräusch in meiner Hand. Sie ließ sich einfach zerdrücken; beinahe ein bisschen zu einfach. Ich war versucht, sie gegen die Wand zu schmeißen, beherrschte mich aber gerade noch so und zielte stattdessen auf den Papierkorb neben der Tür. Einige Momente hielt ich sie so, überlegte, ob ich wirklich werfen sollte.

Wie lange saß ich hier schon herum? Vier, fünf, sechs Stunden? Ich erinnerte mich kaum noch daran, wie ich hierhergekommen war. Als der Bus endlich in Albany angekommen war, hatte mich ein älterer Mann aus meinem Tiefschlaf gerissen. Er hatte dabei einige unfreundliche Worte vor sich hingemurmelt und mich wie ein Insekt angeschaut. Ich hatte mich widerwillig bei ihm bedankt und war schlaftrunken aus dem Bus getaumelt - direkt in die Arme von zwei wartenden Polizisten.

Ich hatte nicht einmal versucht, davonzulaufen oder groß zu diskutieren. Dafür war ich viel zu müde gewesen. Stattdessen hatte ich mit meinen Schultern gezuckt und in einem eher dramatischen Move meine Hände hingehalten, als ob ich das Anlegen der Handschellen schon erwartete. Die Beamten hatten ein wenig lachen müssen.

Im Polizeiauto war ich so gut wie sofort wieder eingeschlafen. Erst auf der Wache, als sie mich durchsuchten und in irgendeine Abstellkammer brachten, die aussah, wie ein überholter Vernehmungsraum, war ich so halbwegs wieder wachgeworden.

Man hatte mich kurz auf eine Toilette gelassen und mir sogar ein feuchtes Tuch gegeben, mit dem ich endlich die längst getrockneten Blutreste an meiner Nase abwischen konnte. Ich hatte überall Schrammen von meinem nächtlichen Spaziergang durch den Wald und roch vermutlich wie ein Stinktier. Vielleicht erklärte das auch, wieso bisher niemand die Zeit gehabt hatte, ernsthaft mit mir zu sprechen. Vielleicht hatte aber auch jemand den Nachnamen von Joshs Vater erkannt, und dem ganzen einen Riegel vorgeschoben, bevor unangenehme Fragen gestellt werden konnten. Oder sie hatten einfach bessere Dinge zu tun, als sich mit einem jugendlichen Rebellen von einer Schule für schwer erziehbare herumzuschlagen; zumindest musste es für die Polizisten so aussehen.

Ab und zu war eine jüngere Polizistin in den Raum gekommen, hatte mir versichert, dass mich sicher bald jemand abholen würde und ich hier bestimmt bald rauskönne. Dann hatte sie gefragt, ob ich etwas brauche. Ich hatte nur meinen Kopf geschüttelt. Ihr Blick war für meinen Geschmack ein wenig zu mitleidig, aber wenigstens stellte sie mir ein paar Cola-Dosen auf den Metalltisch und meinte, wenn ich auf die Toilette müsse, solle ich einfach an die Tür klopfen.

Ich hatte schon überlegt, ob ich den Raum einfach verlassen und aus der Wache spazieren könnte. Es würde doch sicherlich nicht ein Polizist nur für meine Bewachung abgestellt werden, oder? Dann hätten sie sich vermutlich auch schon mit mir unterhalten. Andererseits hatte ich auch nicht mehr so wirklich Lust, das zu versuchen. Ich wollte einfach nur noch in ein vernünftiges Bett, bevorzugt das bei mir Zuhause. Es war mir beinahe egal, wer mich abholte und was sonst noch geschah.

Mit ein wenig zu viel Schwung warf ich die Cola-Dose. Sie flog gegen die Wand und landete scheppernd neben dem Mülleimer. Unwillkürlich musste ich an Basketball denken, was mich zum Grinsen brachte. Ob Josh das Spiel inzwischen konnte? Wenn Ian und Conrad gewusst hätten, dass er nicht ich, sondern mein Zwillingsbruder war, hätten sie ihm sicher geholfen, Basketball zu lernen, so wie sie mir damals auch geholfen hatten. Auch ich hatte meine Schwächen gehabt, und hatte manche immer noch, aber das war Josh sicherlich nicht immer so sehr bewusst.

Was hatte er am Wochenende wohl gemacht? Ich hoffte, dass er gut mit Ethan und Sarah klargekommen war. Kurz wunderte ich mich, ob Josh sich wohl bei Ethan geoutet hatte, und wie dieser darauf reagiert haben könnte, doch dann schüttelte ich den Kopf. Ich konnte mir keinen wirklichen Grund vorstellen, warum er das überhaupt tun sollte. Außerdem, auch wenn Josh so tat, als wäre er ich und nicht er selbst, so mutig war er vermutlich dann doch noch nicht geworden.

Und trotzdem hatte er sich enorm verändert und irgendwie war ich auch ein wenig stolz darauf, wieviel Fortschritt er gemacht hatte; beinahe als wäre ich persönlich dafür verantwortlich. Er hatte immer noch seine Momente und auch für das, was jetzt passiert war, würde er vermutlich sich und nur sich alleine die Schuld geben, aber insgesamt hatte er sich unglaublich zum Positiven verändert, trotz der nur sehr kurzen Zeit.

Seufzend erhob ich mich und ging zur der Dose hinüber, um sie in den Papierkorb zu werfen. Was wohl aus Josh und mir werden würde? Würde er bei seinen Eltern ausziehen können, sobald das Ganze herauskam? Wohin würde er dann gehen? Ich wünschte, meine Eltern würden ihn aufnehmen, aber im Moment war unsere Wohnung schon mehr als zu voll. Vielleicht würde er vorübergehend bei Ethan schlafen und dann zu uns ziehen, sobald Conrad mit seinem Stipendium auf dem College war?

Vielleicht würden die Dinge aber auch ganz anders kommen. Falls Mr. Adams mich abholen würde... Sollte ich der Polizei sagen, dass ich gar nicht der war, für den sie mich hielten? Welche Auswirkungen hätte das für Josh? Würden sie mir überhaupt glauben? Theoretisch müssten sie es überprüfen, aber vermutlich würden sie einfach nur darüber lachen und es ignorieren. Ich gähnte. Das konnte ich immer noch entscheiden, sobald ich wusste, wer mich abholen würde

Ich hatte gerade die nächste Dose geöffnet und ein paar Schluck getrunken, als die Tür sich öffnete. Diesmal war es ein mürrisch dreinschauender Polizist mittleren Alters. »Du wirst abgeholt«, meinte er nur desinteressiert, bevor er verschwand und die Tür hinter sich offenließ.


Gemini (Deutsche Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt