Zweiter Teil
32.
Alainn Namara musste nur die Augen schließen, dann konnte sie Freya Namaras Stimme hören, wie sie sagte: „Gut gemacht, Alainn. Und jetzt: töte sie. Töte sie alle!" Sie spürte das Ziehen, als das verborgene Knurren des Wolfes aus dem Inneren ihres Wesens auftauchte und seine schaurige Melodie aus Blut und Gewalt sang. Ein Lied, dass sie mitgezogen hatte und sie mit seiner herben Süße einlullte und in ein Meer aus Blut führte. Sie sah sich selber wie sie mit schwarzen Augen und schwarzen Mustern auf der blassen Haut nach dem Schwert griff. Sie hörte das schneidende Geräusch, als sie die Klinge aus der Scheide zog und die Gruppe tötete. Die Schreie der Frauen, als sie die Männer abschlachtete. Das Weinen und Jammern.
„Gut gemacht, Alainn. Das sind dann 20 Verbündete von Boudicca weniger!", wie Freya ihr lobend auf die Schulter geklopft hatte, ihre Mutter, die ihr das weiße Stofftaschentuch gereicht hatte, um ihr Gesicht von dem Blut zu befreien- das alles brannte sich in Alainns Netzhaut. Genauso wie die Alpträume. Die nächtlichen Besuche Boudiccas, die in ihren Träumen Beifall klatschte. Ihr zu der Grausamkeit gratulierte, sie ihrer vergangenen Naivität verspottete. Die ersten Nächte war Alainn Schreien erwacht und war wie ein kleines Kind zu ihrer Mutter ins Bett gekrochen. Aber nach der zweiten Nacht, die Alainn schreiend erwacht war, hatte Caenna sie zurück gewiesen.
„Ich weiß, das die letzten Tage eine harte Umstellung waren. Aber du musst lernen Balance zwischen deinen zwei Seelen zu schaffen."
„Bitte Mom- nur diese eine Nacht!", hatte Alainn geweint. „Nein, mein Schatz!", dies war die erste Nacht, die sie sich rausgeschlichen hatte. Danach war es jede gewesen. Am Anfang hatte sie sich noch jedes Mal geschworen, nicht wieder zurückzukehren. Wenige Stunden später stand sie wieder vor seinem Fenster, das Gesicht Tränen nass, die Glieder zittrig und schwach, sodass er sie oft auffangen und ins Bett tragen musste, wo sie sich an ihn klammerte wie an einen Rettungsanker. Am Anfang hatte er Fragen gestellt. Tausende. Aber Alainn hatte nie ein Wort gesagt. Das einzige was sie tat, war sich an ihn zu klammern, ihr Gesicht an seine Brust zu drücken und zu versuchen den Tränen einhalt zu gebieten, und die Erinnerungen in ihrem Kopf zu beruhigen. Kiran gab ihr Frieden und Schlaf. Wenn er morgens erwachte, war sie bereits weg. Nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin, außer der schwache Duft ihres Körpers, der in seinem Zimmer lag.
Erst als ihre Tränen zu Eiskristallen auf ihrer Haut wurden, merkte Alainn, dass sie weinte. Hastig wischte sie sie weg und zog das Kapi tiefer in ihre Stirn, um ihr blaues Auge und die Platzwunde zu verstecken. Ein Geschenk Freyas in Lektionen Gehorsam und Respekt. Hastig sah sie auf die Uhr und dann auf den Schulhof, den sie, seit einer Woche nicht mehr besucht hatte. Die Ausbildung zu einer Korrigan ist wichtiger, hatte Freya gesagt, mal davon abgesehen, weiß ich eh nicht wie lange sie da noch steht. Das ist doch bestimmt auch in deinem Sinne, oder Alainn? Eine Korrigan zu werden ist doch das, was du immer wolltest oder?
Das Mädchen presste die Lippen aufeinander, drückte sich fester in ihr Versteck und beobachtete die Schüler, die aus der Schule zogen. Dann sah sie ihn. Sie musste sich beeilen. Die Zeit eilte und wenn Freya sie entdeckte ... bei ihm. Was würde sie ihm antun? Was wäre ihre eigene Strafe sein? Alainn wollte lieber nicht darüber nach denken.
„Kiran!", er blieb wie angewurzelt stehen, als er ihre Stimme hörte. Es war, als habe er sie schon ewig nicht mehr gehört.
„Alainn?", ihr Griff war fest und grob, als sie ihn aus der Menge zog.
„Was soll das?", wütend machte er sich von ihr los. Verängstigt sah sie sich um. Musterte die Menschen, um sie herum.
„Was ist los, Alainn?!", eindringlich packte er sie an der Schulter. „Hör zu, Kiran mir bleibt wenig Zeit, als hör gut zu, okay?"

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Officium #Wattys2016
HorrorAlainn, das Mädchen mit dem Feuerhaar, wünscht sich eigentlich nichts sehnlicher, als ihre heilige Pflicht als Hüterin der Fabelwesen zu erfüllen. Als ihre Mutter auf die glorreiche Idee kommt, sie in die winzige Stadt Wolfsbach zu verschleppen, koc...