23.
Alainn starrte auf das schmutzige Weiß der Tapete. Ihr Herz pochte gegen ihren Brustkorb, während sie sich zwang ruhig ein und aus zu atmen. Dies hatte nur die Folge, dass sie das Gefühl hatte nicht genügend Sauerstoff zu bekommen. Das langsame, schleichende Gefühl der Erstickung hing als Bild in ihrem Kopf fest, das eher an ein Set eines Dramas gehörte, als in die Realität. Ihr Rücken meldete sich zum hundertsten Male, dass ihm erstens: Die Wand zu kalt und zweitens: Der Druck mit dem er daran fest gepresst war, zu stark war. Mit angezogenen Beinen saß sie auf den Linoleum Boden. Er roch nach Chemie und Gummi. Langsam drehte sie den Kopf und sah Kiran an. Grimmig starrte er auf die Wand. Sein Körper war angespannt, sodass seine Kieferknochen scharf herausstachen. Sie sah, wie er schwer schluckte.
„Und dann habe ich zu Margary gesagt, das Derek zu Tom gesagt, dass zwischen Elena und Sebastian etwas läuft. Nein, nein...", die Stimme der Sekretärin über ihnen schallte durch den Raum. Papier raschelte, als sie de Stapel auf den Tresen über ihnen ordnete. Alainn schloss die Augen und stieß ein Stoßgebet aus. „aber Agnes!!", die Stimme nahm einen unnatürlich hohen Ton an, der wie eine Mischung aus einer Kreissäge und einem Signaltongerät für Fledermäuse klang.
„Agnes, Agnes...nein, das hat sie nicht? Hat sie?", das laute Knatschen eines Kaugummis drang zu ihnen hinunter:" Meine Güte. Ich wusste ja, dass sie nicht ganz koscher ist. Ich habe das vom ersten Moment gesagt, nein wirklich. Agnes, das habe ich! Frag Sybil. Die stand nämlich genau neben mir, als .. nein wirklich? Ach, herrjemine!", Kirans Gesicht landete kopfschüttelnd in seinen Händen. Er ballte sie zu Fäusten und hob sie gen Himmel und schrie lautlos seine Qual heraus. Alainn unterdrückte ein Lachen.
„Bitte, töte mich!", formten Kirans Lippen und er legte theatralisch seinen Zeigefinger an den Hals und fuhr damit über seine Kehle. Wieder biss sich Alainn auf die Lippe, um nicht zu kichern. Seit einer geschlagenen halben Stunde saßen sie an den Tresen gedrückt da und hörten Madame Sekretary dabei zu, wie sie sich über die Affäre zwischen Elena und Sebastian unterhielt. Alainn hatte keine Ahnung, wer diese beiden Menschen waren, aber Leid taten sie ihr schon. Es war schon eine schlimme Sache, wenn man sich in den Cousin von Dereks Cousin Tom verliebte. Beinah hätte sie erneut gekichert. Sehnsüchtig dachte Alainn an die metallene Tür, die im Flur hinter dem Tresen auf sie wartete. Sie waren so gut wie da gewesen, als die Kaugummi kauende Stephanie den Kopierraum des Polizeireviers verließ. Ihre einzige Versteckmöglichkeit war der Rückzug gewesen. Mit den Ellenbogen stupste Alainn Kiran an und deutete mit dem Kopf auf das Handy in seinem Schoss. Er nickte und hielt zwei Finger in die Höhe. Zwei Minuten. Leise seuftze Alainn. Papier raschelte. Sie sah nach oben. Stephanie baute große, wankende Papierstapel, deren Ränder über den Tresen hinausliefen. Wenn das mal gut ging. Wackelte der eine Stapel etwa? Alainn hielt die Luft an und starrte auf die unterste Seite, deren erster Absatz über den Rand baumelten. Vor ihrem inneren Auge verlor der Stapel die Balance und fiel. Hunderte Blätter ergossen sich über den Tresen und den Boden. Die ewig plapperne Stephanie würde ihren Platz hinter den Tresen verlassen und sich nach vorne bequemen, wo sie zwei Teenager finden würde, die sich angestrengt gegen den besagten Tresen drücken würde. Sie würde natürlich schnell begreifen, was sie hier im Polizeirevier wollten und die Polizisten im Konferenzraum mit ihren Schreien herbeirufen. Natürlich würde sie und Kiran nicht für versuchten Einbruch ins Gefängnis gehen, nein, man würde sie ihren Eltern überlassen. Alainn müsste ihrer Mutter entgegentreten.
Langsam und mit ruhigen Fingern ließ sie ihren Arm nach vorne schnellen. Sie würde niemals ihrer Mutter entgegentreten wegen versuchten Einbruch in ein Polizeirevier, das schwor sich Alainn. Lieber würde sie mit dem Nimäischen Löwen kämpfen. Vorsichtig berührten ihre Finger das Papier und schoben sie Millimeter um Millimeter weiter auf die Platte. Die Glocke an der Tür läutete und das Mädchen schob mit einem raschen Stups den Stapel auf den Tresen. Leichtfüßig und mit einem dicken Lächeln auf dem Gesicht trat Alec durch die Tür. Alainn atmete erleichtert aus. „Hallo, Steph!", begrüßte er die Frau. Lässig lehnte er sich auf die Holzplatte zu ihr hinüber. Seine schokoladenfarbenen Augen glänzten fröhlich.

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Officium #Wattys2016
HorrorAlainn, das Mädchen mit dem Feuerhaar, wünscht sich eigentlich nichts sehnlicher, als ihre heilige Pflicht als Hüterin der Fabelwesen zu erfüllen. Als ihre Mutter auf die glorreiche Idee kommt, sie in die winzige Stadt Wolfsbach zu verschleppen, koc...