40„Freya?"
In der kalten Luft sirrten einsame Glühwürmchen und schwebten wie einsame Inseln im Meer der Nacht. Freya wischte sich eine lose Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatten und drehte sich zu ihrer Schwester um. Tiefe Sorgenfalten durchzogen Caennas Stirn wie Risse in einer Marmorstatur.
„Du musst mir etwas versprechen!"
„Tue ich das nicht schon mein ganzes Leben lang? Dir etwas versprechen? Dir helfen? Findest du nicht, dass du langsam an der Reihe bist?" Freyas Tonfall klang belustigt, aber Caenna kannte ihre Schwester zu gut, um den tiefen Schmerz hinter dem Lachen zu überhören. Behutsam legte sie ihre Hand auf Freyas, fuhr liebevoll über die Narben auf dem Handrücken, um sie dann mitfühlend zu drücken.
Die letzten Jahre hatten Risse in ihre Beziehungen hinterlassen. Das wusste Caenna. Sie betrachtete die neuen Narben. Narben, deren Ursprung sie nicht kannte und die zwischen den anderen weißen, verheilten Wunden, sie rosafarben und anklagend anschrien. Wo warst du all die Jahre? Wieso warst du nicht da? Das tiefe Bedauern in ihrem Inneren wurde zu einem mitreißenden Sturm, der Schuld auf sie nieder prasseln ließ. Dennoch wusste sie, dass sie genauso wieder gehandelt hätte. Immer.
„Also, was ist es?" Hastig entzog Freya ihr die Hand, um sie dann in einer ihrer Jackentaschen zu stecken. Tastend fand sie ein altes Bonbon, das inzwischen mit dem Futter der Jacke verschmolzen war.
„Ich fürchte, meine Zeit wird nicht ausreichen, um meine Schuld zu begleichen, Schwester!", Freya sah Caenna mit gerunzelter Stirn verwirrt an.
„Wie meinst du das?". Caenna sah hinauf in den Himmel, betrachtete die Sterne. Die Luft war kalt und klar. Nur der würzige Erdgeruch und das Harz, der sich im Winde tanzenden Tannen, reicherte die Luft an. Es würde schneien, dachte Caenna und wand sich wieder Freya zu. Zwillingsschwester. Für Andere war es bloß eine Bezeichnung gewesen. Aber für sie und Freya war es mehr, als das. Sie waren Schwestern, Freundinnen, eine Einheit im Kampf und verbunden durch die gleichen Ideale im Geiste gewesen. Bis Adam kam. Adam. Caenna fröstelte und fuhr sich erschaudernd über die Arme. Sie hatte Alainn noch so viel zu erklären. Über sie und Adam. Das, was es gewesen war. Mehr als Liebe. Mehr als Schicksal und Pflicht. Etwas so tief Bewegendes, dass es alles ausgelöscht hatte. Selbst Freya. Ihre Schwester würde ihr das nie verzeihen, aber darauf kam es nicht mehr an. Caenna senkte den Blick und starrte auf das verblassende Tattoo auf ihrer Hand. Die Äste des Baumes waren im schwachen Mondlicht kaum noch zu erkennen und jeden Tag spürte sie, wie die Kraft sie verließ. Wie eine Wunde, die nicht aufhört zu bluten, bis der Körper leer und tot war.
„Caenna?", Freya berührte sie sanft am Arm.
„Meine Aufgabe ist getan. Ich habe das Buch beschützt, meiner Göttin, sowie dem Weltenbaum gedient. Meine Zeit ist vorbei. Alainn wird meinen Part übernehmen. Ich weiß, dass du bereis viel für sie tust. Aber versprech mir, sie zu beschützen, ihr den Weg zu zeigen. Ihr beizustehen, was auch immer sich in ihren Weg stellt!"
Freya runzelte die Stirn und sah Caenna prüfend an.
„Ich tue, was du verlangst, Schwester. Immer." Caenna nickte. Tränen standen in ihren Augen.
„Ich weiß, dass meine Zeit gekommen ist!"
„Der Wechsel von Mutter zu Tochter muss nicht heißen, dass du ...", Caenna griff nach Freyas Arm, ihre Nägel bohrten sich hinein und ihre grünen Augen leuchteten hypnotisch.
„Diesmal schon. Es wird so kommen. Ich weiß es. Du weißt es auch!" Sie sah ihre Zwillingsschwester an, während eine einzelne Träne aus ihren Augen schlüpfte.

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Officium #Wattys2016
HorrorAlainn, das Mädchen mit dem Feuerhaar, wünscht sich eigentlich nichts sehnlicher, als ihre heilige Pflicht als Hüterin der Fabelwesen zu erfüllen. Als ihre Mutter auf die glorreiche Idee kommt, sie in die winzige Stadt Wolfsbach zu verschleppen, koc...