42.
Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, breitete sich über ihren gesamten Körper aus. Es fühlte sie an, als habe man einen Eimer Eiswasser über sie gegossen. Die Kälte im unterirdischen Tunnelgewölbe war schneidend. Ihre Finger waren taub von den Steinen, die die Kälte speicherten und sich unter ihren Händen wie Eisklotze anfühlten. Ihre Knie knackten unter der ständigen Belastung auf allen vieren zu krabbeln. Die unterirdischen Tunnel waren klein, sodass sie nicht stehen konnten. Hinzu kam der Luftzug, der durch die Steinwände zog und die beiden Mädchen mit seinem pfeifenden Lied begleitete.
„Wie weit noch, Zara?, wisperte Alainn und versuchte nicht dauernd auf Zaras Hinterteil zu schauen, was sich als schwieriger als gedacht herausstellte. Sie versuchte nur noch auf den Boden zu schauen, aber als sie beinah in ihre Rückseite lief, musste sie wenigstens ab und zu nach vorne schauen. Und da war nichts außer ein schwarzes bewegendes Etwas, dem sie hinter her krabbelte. Sie hatte Zara verflucht, als sie aus der Ohnmacht erwacht war. Die Kopfschmerzen hatten sie fast umgebracht und noch immer konnte sie die Beule an ihrer Schläfe spüren, wo Zara sie erwischt hatte.
Der mitleidige Blick, den Zara ihr zugeworfen hatte, war unerträglich gewesen. Sie hatte sie abgehalten zu ihrer Mutter zu gelangen. Noch immer konnte Alainn die Wut durch ihre Adern rauschen spüren. Das Gefühl so viele Dinge für alle Zeiten ungesagt bleiben zu lassen, hatte sie halb wahnsinnig durch das Haus streifen lassen, bis sie Zara gezwungen hatte einen Weg zu finden. Einen Weg zu ihrer Mutter.
Sie zu befreien.
Oder wenigsten ein letztes Mal mit ihr zu reden. Sich zu verabschieden. Bei den Gedanken schluckte Alainn und versuchte die Tränen hinunter zu schlucken, die sich unaufhaltsam nach oben bahnten.
„Nicht mehr lange!", flüsterte Zara und unterbrach Alainns Gedankenkarussell. Sie bogen ab und die Decke wurde höher, sodass sie sich schon fast aufrichten konnten. Zara machte die Taschenlampe aus und sie saßen in vollkommener Dunkelheit. „Sht!", machte sie leise, „Wir sind fast da." Alainn nickte, auch wenn Zara es nicht sehen konnte. Durch die Decke hörten sie Stimmen. Laute, dröhnende Stimmen, die lachten. Etwas rappelte auf ein Stück Holz. Unscharfe Schemen beugten sich zur Wand hinüber und pressten ihren Kopf dagegen. Alainn tat es ihr gleich.
„Ich glaube, es sind Vier ...", wisperte Zara, „Sie ... spielen Würfel!"
„Können wir sie umgehen?"
„Theoretisch. Aber wir brauchen den Schlüssel zum Kerker!"
„Dann können wir meine Mutter heraus holen!", Alainns Stimme überschlug sich und ihr Herz begann zu rasen. Sie entspannte sich. Die Angst, die sie seit dem gestrigen Abend einfach nicht mehr losgelassen hatte, verschwand. Sie hatte das Gefühl wieder frei Atmen zu können. Zaras kalten Finger legten sich um Alainns Handgelenk. Es fühlte sich an, als würden sich die Finger einer Toten, um ihr Handgelenk legen. „Nein, Alainn.", wisperte Zara und trotzdem sie ihr Gesicht nicht sehen konnte, hörte sie das Bedauern.
„Die Schlüssel für die einzelnen Kerkertüren trägt meine Mutter. Die anderen Schlüssel bringen uns nur in den Raum, wo deine Mutter in ihrer Zelle eingeschlossen ist.", die Angst, die zuvor verschwunden war, kam zurück. Stärker als zuvor.
Alainn kämpfte mit Atemnot, während die Furcht sich um ihre Organe legte und sie einquetschte mit ihren kalten, erbarmungslosen Fingern. Die Hoffnung, die sie bisher noch in sich gespürt hatte, verschwand und hinterließ nur eine leere, schwarze Hülle. Alainn dachte an all die Sachen, die sie ihre Mutter sagen wollte. All die Dinge, die noch zwischen ihnen standen und, die es noch zu klären galt. Die Liste war lang. Lang genug, um für ein ganzes Leben lang zu reichen, aber zu kurz für die Tage, die noch blieben. Tage? Waren es überhaupt noch Tage? Gab es etwas Schlimmeres, als zu wissen, dass ein geliebter Mensch sterben würde und man nichts tun konnte, außer zu zusehen? Es war, als habe ihre Mutter unheilbaren Krebs. Und dieser Krebs hieß Morgraine.
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Officium #Wattys2016
HorrorAlainn, das Mädchen mit dem Feuerhaar, wünscht sich eigentlich nichts sehnlicher, als ihre heilige Pflicht als Hüterin der Fabelwesen zu erfüllen. Als ihre Mutter auf die glorreiche Idee kommt, sie in die winzige Stadt Wolfsbach zu verschleppen, koc...