Praenuntius* aktualisiert

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Blinzelnd öffnete sie ihre Lider. Finsternis hüllte sie ein. Sie lag auf dem kalten Steinboden des Pavillons. Stöhnend richtete sie sich auf und blickte sich verwirrt um. Die Ruinen waren verschwunden, ebenso der Wald. Stattdessen stand sie nun im Pavillon, der sich wiederum in einer runden Tempelanlage befand. Verwitterte Mauern ersetzten kunstvolle Rundbögen, die das Dach trugen. Das gläserne Kuppeldach zeigte die runde Silhouette des Mondes, der schimmerndes Licht in den runden Raum warf. Die Skulpturen warfen im spärlichen Silberlicht gespenstige Schatten. Ohne die Moose und Flechten, die sich um ihre Körper rankten, erkannte Alainn ihre überdurchschnittliche Größe. Ihre kalten Steingesichter liesen sie erschaudern. Die Rillen im Pavillon leuchteten im Licht des Mondes, so als habe jemand eine Schale Glitter fallen gelassen. Neben dem Dach des Pavillons ragte eine riesige Eberesche empor. Alainn erkannte sie an den Beeren und den gefiederten Blättern. Mit großen Augen stieg sie die Stufen hinunter. Erst jetzt bemerkte sie das silberne Kleid, dass sie trug. Vorsichtig berührte sie den Stoff mit den Fingern. Fließendes silberweis schmiegte sich wie eine zweite Haut um ihren Körper. Ein langer Schlitz an ihrer rechten Seite sorgte für die nötige Beinfreiheit. Ihre nackten Füße patschten auf den Boden der Anlage, während sie angezogen von dem mächtigen Baum auf ihn zu schritt. Sie stoppte erst, als ihre Zehen fast die kräftigen Wurzeln berührten. Alainn legte ihren Kopf in den Nacken. In Gold und Silber schimmerte der Baum. Seine mächtige Baumkrone bestand aus millionen verzweigter und verwinkelter Äste und Zweige, an denen sich Blätter und Beeren krallten und ihn schmückten. Zögerlich streckte das Mädchen den Arm aus. Bedächtig so als habe sie Angst, dass eine Berührung dem Baum schaden würde, näherten sich ihre Finger dem Stamm. 

„Weißt du, was du da vor dir hast, kleine Hüterin?". Alainn zuckte zusammen. Ihr Herz raste. Neben ihr stand eine Frau. Eine wunderschöne Frau mit langen, wogenden blonden Haaren und eisblauen Augen, die sie von oben herab musterten. Sie trug das gleiche silbrig-weise Kleid wie sie selbst.

„Der Weltenbaum, nicht wahr?", flüsterte Alainn bedächtig. Die Frau lächelte:" Richtig, kleine Hüterin. Kennst du seine Funktion?" Alainn nickte begierig:" Er ist das Zentrum. Er verbindet alle Welten miteinander. Die Schöpfung der Götter besteht nur so lange wie er besteht. Er ist das Leben. Die Zeit und die Balance. Er ist die höchste magische Kraft neben den Göttern. Er hat das Weltenbuch erschaffen, das Buch der Wahrheit, der Magie, des Wissens. Er ist das Tor der Welten und gleichzeitig ist er jede Welt."

Die Frau lächelte, während sie die Ehrfurcht erstarrte Mimik des Mädchens betrachtete. „So ist es!", sie sah Alainn weiterhin an: „Weißt du denn auch, warum du hier bist?" Alainn schüttelte den Kopf: „Ich weiß ja nicht einmal, wo ich bin! Eben war ich noch...", sie stockte, überlegte. Ihre Erinnerungen waren wirr. So als habe sie sie weit von sich geschoben, und müsse sie erst zurückholen, um die passende Erinnerung herauszukramen."Du bist im Götterhain!", sagte die Frau. Sie hatte eine liebliche Stimme. Sanft und klar wie Morgenrot an einem strahlend blauen Sommermorgen. 

„Im Götterhain? Aber das hier ist doch nur ein Traum? Nur eine Nachwirkung meiner Kräfte, richtig?"

„Ist dem so, kleine Hüterin?"

„Ich weiß es nicht, ich frage euch?", Alainn redete die Frau mit der höfischen Umgangsform an, da sie tief in ihrem Inneren die Macht der Frau spürte. Noch immer hatte sie sich nicht vorgestellt und trotz ihrer Neugier hatte es Alainn nicht gewagt zu fragen. Es war eine alte, kraftvolle Magie, die sie umgab und Alainn hin und wieder die Haare zu Bergen stehen ließ. „Du bist im Götterhain, weil es Zeit ist."

„Zeit, wofür?", die Frau legte lächelnd eine Hand an den Stamm des Baumes. Ließ ihre feinen Finger über seine Rinde tanzen. „Zeit deine Bestimmung zu erfüllen!"

Officium #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt