Die Nacht war längst angebrochen. Schneeflocken starben durch die dunkelblaue Nacht, die nur durch die wenigen Laternen hier und da in gelbliches Licht getaucht wurde. Das Licht lockte die Schatten an, bewegte schwarze Kreaturen, die ihm zu folgen schienen und sein Herz in einen schnellen Rhythmus fallen ließen. Er drehte sich um. Seine schwarzen Augen musterten die kalten Steinmauern, Überreste der verfallenen Burgmauer, die einmal Wald und Stadt getrennt hatte, bis die Natur ihre Übermacht demonstrierte und ihre Finger über sie ausgebreitet hatte. Schnee deckte die Efeublätter ein, wie eine Bettdecke, während die knorrigen Stängel mit den Spitzenbesätzen der Eiskristalle verkleidet waren. Kiran Graham stockte, drehte sich um und ließ seine Augen erneut über die Umgebung kreisen. Doch nichts.
Nur der fallende Schnee, die Ruinen der Burg und hinter ihm die Düsternis des Waldes. Er war zu langsam. Eine kalte Hand umfasste seinen Mund. Zog ihn zurück. Er versuchte sich zu wehren. Aber trotz der Schmächtigkeit der Hand, war die Person stark. Polternd wurde er in eine ehemalige Türflucht gepresst. Dann spürte er zwei kalte Lippen auf seinen. Er roch den süßen Duft von Lindenblüte, der sich mit dem metallischen Geruch von Blut vermischte. Er schmeckte warme Milch mit Honig. Seine Hände drückten die schmächtige Gestalt an sich. Zogen ihre Kapuze herunter und strichen durch das dunkelrote Haar. Ihre Nasenspitze war kalt wie ein Eiszapfen. Der Junge löste sich von ihr und küsste ihre Nasenspitze. Alainn kicherte und drückte sich an ihn.
»Du hast mich erschreckt«, murmelte er.
Seine Hände waren warm, trotz der Kälte, fühlten sich auf Alainns eisigem Gesicht und den bläulich anlaufenden Lippen wie eine Wohltat an.
»Ich weiß.« Sie grinste frech. Seine schwarzen Augen sahen sie zärtlich an und der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ ihren Magen Achterbahn fahren.
»Ich habe dich beobachtet, Kiran Graham.« Wieder grinste sie. Er strich ihr das Haar aus der Stirn. Sie wurde ernst, löste sich aber nicht von ihm, sondern drängte sich noch enger an ihn ran.
»Wo warst du die letzten drei Tage? Korrigans haben mich befragt. Mich und die anderen. Die Königin sucht dich überall.«
Sie legte ihren Kopf an seine Brust.
»Die Gerichtsverhandlung ist nicht gelaufen, wie ich es gehofft habe«, nuschelte sie in seine Jacke.
Seine rauen Hände strichen sanft über ihren Kopf. »Das habe ich gehört«, sagte er mitfühlend.
Unter seiner Jacke hörte sie sein Herz. Es schlug einen schnellen Rhythmus, der sie beruhigte. Alainn hob den Kopf. »Meine Mum war Mitglied in einer Rebellengruppe, die gegen die Königin intrigiert. Ich weiß noch nichts Genaues, aber es hängt alles mit ihrer Vergangenheit zusammen. Kiran.« Ihre moosgrünen Augen sahen ihn ratlos an. »Es ist alles so verworren, wie soll ich jemals einen Durchblick bekommen?«
Er drückte sie fester an sich, während um sie herum der Schnee durch die Luft tanzte. »Erst einmal müssen wir Boudicca aufhalten. Alles andere kommt danach. Okay?«
Sie nicke. »Hast du die Liste?«
Kiran strich ihr übers Haar und lächelte leicht. »Sie wird uns nicht mehr helfen.«
»Wie meinst du das?«, sie befreite sich aus seinem Griff. Er zog ein zerknittertes Blattpapier aus seiner Tasche. Er hielt ihr das weiße Blatt hin und deutete auf einen mit Tinte geschriebene Namen. »Kathrin Schmitt. 20 Jahre. Sie ist seit vorgestern verschwunden. Sie wollte sich mit ihrem Freund Malte treffen und ihren Abschluss feiern. Aber ...«
»Sie ist nie an ihrem Treffpunkt angekommen?« Kiran schüttelte den Kopf. Seine Hand fuhr über sein Gesicht.
»Kanntest du sie?«
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Officium #Wattys2016
HorreurAlainn, das Mädchen mit dem Feuerhaar, wünscht sich eigentlich nichts sehnlicher, als ihre heilige Pflicht als Hüterin der Fabelwesen zu erfüllen. Als ihre Mutter auf die glorreiche Idee kommt, sie in die winzige Stadt Wolfsbach zu verschleppen, koc...