„Mr. Bryan. Bei allem Respekt. Wir werden bestimmt auf keinen Deal mit Ihnen und Ihrem Mandanten eingehen. Das Leben ist kein Wunschkonzert, und das Gericht schon dreimal nicht. Also, wir sehen uns morgen in der Verhandlung. Auf Wiederhören." Damit legte sie auf und lehnte sich in ihrem großen Bürosessel zurück. Mit ihrer rechten Hand rieb sie sich den Bauch. Die Narben fingen wieder an zu brennen. Die Narben von jener Nacht. Vor sechs Jahren. Sie schüttelte den Kopf um die Gedanken los zu werden. Wobei sie doch genau wusste, dass sie diese Nacht nie vergessen wird. Ihr Psychologe sagte ihr immer:"Dominique, das Glas muss halb voll und nicht halb leer sein." Aber der hatte ja gut sagen. Genau so wie alle anderen in ihrem Umkreis.
Neben ihren nächtlichen Problemen mit den Alpträumen, ihren familiären mit der Scheidung ihrer Eltern und ihrem gescheiterten Liebesleben hatte sie jetzt auch noch den Pflichtverteidiger eines Kleinkriminellen am Hals. Christian Bryan war einer der hartnäckigsten Pflichtverteidiger ihres Bezirks. Und jedes Mal, wenn sie seinen Namen auf der Akte las, kam es ihr schon fast wieder hoch. Schmieriger Typ mit ungepflegtem Gebiss.
Wieder schüttelte sie sich. Das Bild von Christian Bryan vertrug sich nicht gut mit ihrem Mittagsessen.
Ihre Blicke wanderten zu einem kleinen Bildrahmen auf ihrem Schreibtisch. Sie nahm ihn in die Hand und strich mit ihrem rechten Zeigefinger über das Foto. Lang ist's her. Zu viel ist passiert. Irgendwann konnte sie es einfach nicht mehr. Sie hätte sonst zu viel zerstört. Es war ihr Leben, das kaputt war und nicht seines. Also muss er dafür auch nicht her halten.
Ihrem Auge entfloh eine Träne und tropfte direkt auf das Glas des Bilderrahmens und auf das Abbild eines wunderschönen Spencer Reid.
„Oh man, fang nicht wieder damit an. Du elendige Heulsuse." Die Stimme in ihrem Kopf meldete sich wieder. Lange hatte sie geschwiegen und nun war sie wieder da.
Dominique stellte das Bild wieder an den Platz auf dem Schreibtisch und strich ihren Hosenanzug glatt. „Reiß dich zusammen!" Jaja, schon gut.
Sie zupfte sich ihre Haare zurecht, rieb sich einmal über das Gesicht, ohne dass ihre Schminke verschmierte, warf einen letzten Blick auf das Foto auf ihrem Schreibtisch und ging dann aus dem Büro.
Sie brauchte frische Luft und nach dem anstrengenden Tag heute konnte sie sowieso nichts mehr Produktives anstellen.
Sie steckte den Autoschlüssel in das Zündschloss und drehte ihn einmal um. Das Licht ihres Wagens sprang sofort an.
In dem Moment huschte eine schwarze Gestalt vor ihrem Auto vorbei. Dominique schreckte auf und hob sich die Hand vor den Mund. Hat sie sich das alles nur eingebildet? Schnell verriegelte sie ihr Auto und startete den Motor. „Du bildest dir wieder zu viel ein. Es war ein langer Tag und du brauchst Schlaf!", sagte sie sich selbst und fuhr vom Parkplatz auf die Straße.
Sie schaltete das Radio an und tappte mit ihren Fingern im Takt auf das Lenkrad.
Als ihr Lieblingslied ertönte, drehte sie ihre Anlage ganz auf. Ihre beste Freundin hatte ihr diese Dinger ins Auto eingebaut. Da Dominique nie Alkohol trank, musste sie ihre Freunde immer überall abholen und hinfahren. Und daher, dass es ja uncool ist ohne guter Anlage durch Boston zu fahren, musste ihr armes Auto herhalten. Doch manchmal war sie ihr dafür echt dankbar. Musik verdrängt alles. Und für 3:50 Minuten war die Welt eine ganz andere. Alle Probleme fielen von ihr.
Zum perfekten Zeitpunkt, als das Lied vorbei war, klingelte ihr Handy. Sie tippte ihre Freisprechanlage an und wurde von ihrer besten Freundin schon fast angeschrien: „Domi! Hast du Feierabend? Oh, ich verstehe dich gar nicht. Naja. Ich hoffe, dass du mich verstehst. Ich bin mit Daniel im Beach Club. Kommst du auch noch vorbei?" Noch bevor sie ihr antworten konnte wurde sie von ihr unterbrochen. „Ja ich weiß. Morgen hast du diese öde Gerichtsverhandlung. Aber du musst vorbei kommen. Hier geht's total ab! Also? Ich verstehe dich ja eh nicht, also gehe ich schwer davon aus, dass du kommst. Bis gleich!" Und zack. Weg war ihre Freundin.
Dominique atmete einmal tief durch und fuhr in die Tiefgarage ihres Apartments. Damit hatte sie heute Abend gar nicht mehr gerechnet. Am liebsten hätte sie sich aus ihren engen Klamotten gequält und in ihren Schlafanzug geschlüpft. Eine Flasche Wein aufgemacht und eine DVD angesehen. Aber Marie kam ihr mal wieder dazwischen.
Es war schon eine Weile her, dass sie mit Marie abends wegging. Sie durchwühlte ihren Kleiderschrank und hob verschiedene Kleider an ihren Körper. Nichts entsprach ihren Vorstellungen und so landete eins nach dem anderen auf dem Boden ihres Schlafzimmers. Irgendwas muss es doch in diesem mega Kleiderschrank geben, oder?
Nach einer geschlagenen Viertelstunde entschied sie sich für eine einfache hellblaue Bluse und ihrer schwarzen Hose. Raus aus den hohen, schwarzen Highheels und rein in die bequemen Chucks. Schlüssel. Geld. Und wieder raus aus der Tür.
Als sich die Fahrstuhltüren zur Tiefgarage öffneten hörte sie es irgendwo knistern. Aber wo?
Sie drehte sich einmal im Kreis um sich, jedoch konnte sie niemanden sehen. Also ging sie zu ihrem Auto, startete den Motor und fuhr wieder hinaus in die Nacht.
„Domi! Schatz! Wusste ich doch, dass du nicht widerstehen kannst. Komm, ich stelle dir die anderen vor!", brüllte ihre Freundin ihr entgegen, als sie gerade den Club betreten hatte. Es war eine Ewigkeit her, dass sie hier gewesen ist. In ihren ersten Jahren in Boston fand man sie nur in solchen Clubs, bis es ernst um ihren Job und sie zur Staatsanwältin befördert wurde.
Marie schlang ihren Arm um Dominiques Hüfte und zerrte sie auf die Tanzfläche.
„Das hier ist Kevin.", sie deutete auf einen großen braunhaarigen Kerl – Ende 20 schätzte Dominique. Maries Finger wanderte weiter auf einen blonden Typen. Auch ihn schätzte Dominique auf Ende 20, jedoch erinnerte sein jungenhaftes Gesicht an einen 18 Jährigen. „Und der da heißt -", Marie schien zu überlegen, „ - öh. Wie heißt du nochmal?" Sie hatte wohl schon einiges getrunken. „Chris, mein Name ist Chris.", antwortete der Blonde. Seine Augen wanderten von Marie zu Dominique und einmal von unten nach oben über ihren Körper. Das blieb allerdings nicht unbemerkt und Dominique entschuldigte sich bei Marie, dass sie sich erst einmal etwas zu trinken holen muss.
An der Bar angekommen winkte sie sich den Barkeeper her. „Ein Ginger Ale, bitte."
„Was?! Sorry, ich verstehe dich nicht. Du musst etwas lauter reden!" Er gestikulierte wild an seinem Ohr herum und beugte sich weiter zu Dominique. Ihr kam es schon so vor, als würde die Musik immer lauter werden. „Ein Ginger Ale!", jetzt brüllte sie ihn fast schon an. Er nickte kurz und wandte sich dann seinen Flaschen zu.
Dominique drehte sich von der Bar weg und warf einen Blick durch den Raum. Marie tanzte wie wild mit diesem braunhaarigen Typen. Wie war sein Name gleich nochmal? Ach egal, aus den beiden würde eh nichts werden.
Sie beobachtete diese Menschen, wie sich bewegten und an einander rieben. Das war eindeutig zu viel Körperkontakt für sie.
Plötzlich tippte sie jemand an die Schulter. Eigentlich rechnete sie damit, dass es der Barkeeper war, der ihr ihr Getränk geben wollte. Doch er war es nicht. Verwirrt blickte sie in ein Gesicht, dass ihr verdammt bekannt vorkam. „Hi, entschuldige bitte die Störung. Aber mein Name ist Doktor Spencer Reid, ich bin vom FBI und bin mit meinem Team auf der Suche nach diesem Mann. Kommt er Ihnen bekannt vor?"
Für einen kurzen Augenblick blieb ihr die Luft weg.
„Spencer .. ?", flüsterte sie vor sich hin.