2. Ankunft

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Vivians p.o.v.

"Vivian! Komm runter! Marianne ist da!", schrie Ian durchs Haus. Missmutig schwang ich meine Beine aus dem Bett und bewegte mich Richtung Treppe.
"VIVIAN!", brüllte Jasper von unten.
"Ja!", rief ich zurück.
Ich hasste Jasper. Er hasste mich. Das war schon immer so gewesen. Seit ich mit Mum damals hierher gezogen war.
Ich schlurfte in die Küche. Ian stand neben einer wunderschönen Frau, die mir freundlich die Hand gab.
"Du musst Vivian sein. Ich habe schon von dir gehört.", meinte sie. Argh.
"Ich hoffe doch, dass es nur Gutes war.", lächelte ich gezwungen.
Die Frau lachte.
"Ja. Ian schwärmt nur so von seiner lieben, kleinen, fleißigen Tochter.", meinte sie und warf Ian einen mörderischen Blick zu. Ian zog den Kopf ein. Jasper hustete.
Ich mochte Ian wohl. Schließlich hatte er mich nach dem Tod meiner Mutter nicht rausgeworfen, sondern die Vormundschaft für mich beantragt und mir ein Zuhause gelassen. Ich nahm seine neue Freundin, Marianne, näher unter die Lupe. Sie wirkte freundlich und aufgeschlossen und Ian war plötzlich wie ausgewechselt.
Seit dem Tod meiner Mum vor vier Jahren, war er in eine depressive Phase verfallen. Ich war froh, dass Marianne ihn da rausgeholt hatte.
Ian lachte über etwas, das Marianne gesagt hatte. Jasper saß höflich am Tisch und nickte ab und zu.
Irgendwann trafen sich unsere Blicke und er verdrehte die Augen in Richtung Ian und Marianne. Ich war überrascht. Normalerweise nahm er mich gar nicht zur Kenntnis oder er schikanierte mich.
"Ja...Sie kommt bald.", hörte ich Marianne sagen.
"Wer kommt?", fragte Jasper hellhörig.
Ian und Marianne wechselten einen kleinlauten Blick.
"Ihr bekommt eine Schwester.", meinte Ian. Nee, oder? Noch jemand in diesem Haus? Offenbar dachte Jasper das gleiche.
"Och nööö!", maulte er.
Marianne warf Ian einen beunruhigten Blick zu. Ian bedachte seinen Sohn mit einem Klaps auf den Kopf.
"Sei höflich.", mahnte er. Marianne räusperte sich leicht verlegen.
"Hev ist fast achtzehn und bald mit der Schule fertig.", sagte sie leise. Überrascht hob ich meinen Kopf.
In meinem Alter?
Wow. Vielleicht wurden wir ja sogar Freunde. Ich begann unwillkürlich zu lächeln. Ian zwinkerte mir aufmunternd zu.
Jasper zog ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter.
Er wurde bald 19 und war einer der schlechten Schüler in meiner Klasse. Da er zwei Mal sitzen geblieben war, war er sowas wie der King an unserer Schule. Versteh einer das.
Er und Elias, sein älterer Bruder, standen sich zwar nahe, aber sie waren verschieden wie Tag und Nacht. Elias war schon 22 und studierte irgendwas in einem anderen Land. Irgendwas für Intelligenzbestien. Ja, er war schlau. Wenn nicht sogar hochbegabt.
Aber ich schweife ab.
Marianne würde zu Ian ziehen. Unser Haus hier war zwar groß, aber für noch eine weitere Person war wirklich kein Platz. Jasper grinste höhnisch.
"Und wo soll sie dann wohnen?", fragte er und sprach damit meinen Gedanken aus.
Ian und Marianne tauschten einen vielsagenden Blick.
"Ich habe mein altes Arbeitszimmer leergeräumt.", meinte Ian. Ich schnappte entsetzt nach Luft. Das war, mit Abstand, das kleinste Zimmer im ganzen Haus. Darin würde ich nicht wohnen wollen, da es zudem nur ein Fenster hatte und man keine wirklich schöne Aussicht hatte...
Marianne lächelte schwach.
"Hev wird es genügen.", meinte sie und sah ganz unglücklich drein.
Jasper und ich tauschten einen verwirrten Blick. Zum zweiten Mal an diesem Tag. Ein neuer Rekord.
Ian sah Marianne besorgt an.
Sie räusperte sich.
"Hev ist...seltsam geworden. Sie spricht nicht wirklich viel und ignoriert die Meisten um sich herum.", informierte sie uns. Oh. Schade. Da bekam man eine Schwester und sie wurde von ihrer Mutter als seltsam beschrieben. Mist.

Lautes Motorengeräusch ertönte. Marianne sprang auf.
"Das ist Hev!", meinte sie und rannte zur Tür. Ian folgte ihr. Jasper und ich blieben im Wohnzimmer sitzen. Er sah mich nachdenklich an.
"Was?", fragte ich ihn irritiert.
Er schüttelte seinen Kopf.
"Ich wünschte Mum würde noch bei uns sein.", flüsterte er. Ich erstarrte. Er sprach nie von seiner Mum. Genausowenig redete ich über meine.
Gelächter ertönte. Aber es klang halbwegs erzwungen.
"Vivian! Jasper! Kommt in die Küche!", rief Ian uns.
Jasper und ich sahen uns an und gingen langsam los.
"Ich hab keinen Bock auf noch eine Schwester. Du langst.", knurrte er abfällig. Ich war nicht wirklich beleidigt oder verletzt. Im Gegenteil. Das war eines der nettesten Dinge, die er in den letzten vier Jahren zu mir gesagt hatte.
In der Küche lief der Wasserhahn.
Ian und Marianne standen mit dem Rücken zu uns. Sie beobachten eine Person, die gerade ihren Kopf unter den Wasserhahn hielt.
"Hier, Schatz.", meinte Marianne zittrig und hielt der Person, die offensichtlich ihre Tochter war, ein Handtuch hin. Wortlos klatschte sie es sich ins Gesicht und trockete sich ab. Kein Wunder. Bei ihren Klamotten wäre mir auch warm.
Schwarze, schwere Bikerkleidung.
Sie rubbelte mit dem Handtuch über ihr Gesicht.
Ich war gespannt, wie sie aussah.
Dann lag das Handtuch auf dem Tresen. Ein hübsches, braunhaariges Mädchen mit klugen blauen Augen starrte uns an. Sie war ungeschminkt, sah aber trotzdem phänomenal aus. Jasper starrte sie an.
Das Mädchen, Hev, schälte sich aus ihrer Motorradjacke. Sie trug ein eng anliegendes schwarzes Top. Und sie hatte eine wahnsinnige Figur. Wow.
Ich war neidisch. Ganz offiziell.
Aber was war das an ihrem Arm und der Schulter? Ein Tattoo war es nicht, da war ich mir sicher.
Jasper stand noch immer da und starrte sie an. Hev musterte ihn nachdenklich, bevor sie geistesabwesend den Kopf schüttelte.
Blaue Augen bohrten sich in meine. Sie hob eine Augenbraue.
Dann wandte sie sich ihrer Mutter zu und warf ihr einen Schlüssel zu.
"Alles da?", fragte Marianne. Hev nickte abwesend.
Das war also das Verhalten, von dem Marianne uns erzählt hatte.
"Dein Zimmer ist im zweiten Stock. Die Tür am Ende vom Flur.", meinte Ian trocken. Hev wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu. Ein kurzes Lächeln rutschte in ihr Gesicht. Dann nickte sie ihm kurz zu.
Jasper stupste mich an und bedeutete mir, ihm zu folgen.
Gemeinsam halfen wir Hev ihre Sachen in ihr neues Zimmer zu tragen.
Jasper und Hev schleppten schwere Schrankteile oder auch den Lattenrost des Bettes, wohingegen ich mich den leichteren Kisten zuwandte.

Kaum dass das letzte Teil im Zimmer war, befanden sich Jasper und ich im Flur und hatten keine Ahnung, wie wir so schnell hierhergekommen waren. Die Türe hinter uns war zu. Hev hatte uns, ohne ein Wort zu sagen, ausgesperrt.

"Macht euch nichts daraus.", sagte Marianne leise, "Sie ist speziell.", fügte Ian hinzu. Jasper nickte kurz und verschwand in sein Zimmer.
"Ich mache Hausaufgaben.", entschuldigte ich mich und verdrückte mich ebenfalls.

Als es dann Abendessen gab, bat mich Marianne ihre Tochter zu holen. Wortlos joggte ich in den zweiten Stock und klopfte an.
Da niemand antwortete, drückte ich einfach die Klinke hinunter und trat ein. Wahnsinn. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus.
Hev hatte alles aufgebaut und eingeräumt. Nur die Wände waren noch kahl.
Missbilligendes Räuspern ertönte.
"Hev? Deine Mutter hat Essen gemacht.", sagte ich leise und suchte das Zimmer nach ihr ab. Vergebens.
Leises Lachen. Ich fuhr herum. Sie stand im Garten. Wie war sie da hin gekommen. Verblüfft starrte ich sie vom Fenster aus an. Sie bedeutete mir zurückzutreten.
Kurze Zeit später kletterte sie durch das Fenster. Entsetzt machte ich einen Schritt rückwärts.
"Machst du das öfter, Hev?", fragte ich perplex. Bei meinen ersten Worten blieb ihr Gesichtsausdruck neutral, aber als ich ihren Namen aussprach, wurde sie wütend.
"Ich heiße Heaven. Nicht Hev.", knurrte sie mich an. Ich starrte sie an.
"Essen ist fertig.", stammelte ich leise. Sie schnaubte und folgte mir ins Esszimmer.
"Ah! Hev!", rief Marianne. Heaven knurrte. Sofort zuckte Marianne zusammen. Ian sah zwischen den beiden hin und her, wie bei einem Tennismatch.
Was war da los? Offensichtlich hatte Heaven ein Problem, wenn man sie Hev nannte. Nur warum?
"Setzt euch.", sagte Marianne mit leicht zittriger Stimme. Sie hatte Lasagne gekocht.
Jasper, Ian und ich langten kräftig zu. Marianne aß die Hälfte von dem, was wir aßen. Heaven saß da und rührte sich nicht. Sie aß nichts. Sie trank nichts. Ihre Mutter ließ es geschehen.
Fragend sah ich Ian an. Er zuckte mit den Schultern.
"Es schmeckt gut.", sagte ich zu Marianne. Ein Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück.
"Probier doch auch mal.", forderte ich Heaven auf. Sie starrte mich an. Wut blitzte in ihren Augen auf. Und da war noch etwas anderes...Trauer. Definitiv.
Wortlos stand sie auf und verließ das Esszimmer.
Marianne seufzte frustriert.
"Macht euch nichts draus. Sie isst nie mit anderen.", erklärte sie uns. Ich war entsetzt. Marianne lächelte schwach.
"Ich habe lange gebraucht, bis sie mir beim Essen überhaupt Gesellschaft geleistet hat.", flüsterte sie. Ich schluckte.
"Tut mir Leid.", sagte ich zerknirscht. Marianne lächelte.
"Du wusstest es ja nicht.", meinte sie und aß weiter.
Jasper schnaubte. Ian runzelte seine Stirn.
"Warst du in Hev's Zimmer?", wollte Marianne plötzlich ganz interessiert wissen.
"Ja...", sagte ich. Sie starrte mich an.
"Es war nicht abgeschlossen?", fragte sie ungläubig. Ich schüttelte den Kopf.
"Nein. Die Türe war offen.", sagte ich leise.
Marianne sah mich nachdenklich an.
"Lass dich bitte nicht von Hev vergraulen. Sie braucht jemanden, dem sie vertrauen kann.", bat sie mich. Ich hob überrascht den Blick.
"Versuchen kann ich's. Aber ich kann nichts erzwingen.", sagte ich leise. Marianne nickte.
"Danke.", meinte sie.
Und das stellte mich vor die Frage, warum Hev, oder Heaven, so war, wie sie war.

Heaven's personal hell - Die Legende der Urwölfe #SonnenblumenAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt