21. Altes Heim, Glück allein?

256 16 2
                                    

Heaven's p.o.v.

Ich stand hier im schwachen Licht der Straßenlaternen und sog genussvoll die vertraute Atmosphäre in mich auf.
Der Garten war verwildert. Kein Wunder. Wer hätte ihn denn auch instandhalten können oder sollen? Keiner.
Der Rosenbusch. Er zog meinen Blick auf sich, als wäre er magisch...
Mutter seufzte. Sie dachte gerade an das selbe wie ich.
Nach dem schrecklichen Kampf, nach Tommys Tod, nach Joes Tod, nachdem ich geflohen war...
Hier hatte ich gelegen. Unter dem Rosenbusch. Halb tot. Kaum bei Bewusstsein. Fell und Fleisch hing damals in Fetzen an mir herunter.
Zwei Kilometer hatte ich mich geschleppt. Schwer verletzt. Fast tödlich verwundet.
Doch Mutter kam heim und hatte mich gesehen. Sie hatte begriffen.
Sie hatte einen Krankenwagen gerufen und mich dazu gebracht, mich in einen Menschen zu verwandeln. Ich war ins Krankenhaus eingeliefert worden. War operiert worden. Mehrmals. Ich war ins Koma gefallen.
Mit Müh und Not hatten mich die Ärzte durchgebracht. Sie hatten da angefangen zu kämpfen, wo ich aufgegeben hatte.
Als ich dann erwachte, dachte ich, es wäre ein Albtraum gewesen. So, wie ich ihn schon öfter gehabt hatte. Aber dieses Mal war es die bittere Realität gewesen. Alles hatte ich verloren. In einer Nacht.
In einer Nacht hatte sich mein Leben geändert. In dieser einen Nacht hatte ich mich selbst verloren. Ich war eine Hülle geworden. Einzig und allein angetrieben von Wut und Hass. Dem Verlangen nach Rache.

Es war dämmrig hier. Aber ich wusste, dass alles noch so war wie früher. Alles stand am selben Ort. Alles war am selben Ort geblieben.
Wer hätte das auch verändern sollen? Das Rudel war vernichtet. Mutter und ich waren die einzigen, die noch lebten. Wenn man das, was ich hatte, denn ein Leben nennen konnte...
Ich wanderte durch die Räume im Erdgeschoss. Strich wie nebenbei über die Schränke, die Sofas, die Regale. Genoss es. So viele Erinnerungen knüpften sich an diesen Ort. So viele schöne Dinge. Aber auch so viel Grauen und Schmerz. Trauer und Wut.
Hilflosigkeit. Einsamkeit.

Mutter atmete tief ein. Auch sie hatte Probleme hier zu sein. Alles hier erinnerte sie an Dad. Ihren Mate. Ihren Seelenverwandten. Ihre beiden ermordeten Söhne.
"Ich gehe Pizza holen.", sagte Mutter leise. Geistesabwesend nickte ich. Es war ihre Ausrede, um zu entkommen. Und schon war sie verschwunden. Sie floh vor ihren Erinnerungen.
Ich stieg die Treppe hinauf. In den ersten Stock. Vier Zimmer befanden sich hier. Vier Zimmer und zwei Bäder. Auf der rechten Seite war mein Zimmer und das von Tommy.
Mutter, Dad und mein älterer Bruder hatten auf der linken Seite gewohnt.
Ich öffnete eine Türe. Und schloss die Augen. Erinnerungen durchfluteten mich. Ich lächelte. Versunken in längst vergangene Zeiten...

Elias' p.o.v.

Mir war leicht unwohl bei dem Gedanken. Ich wollte nicht in das alte Haus von Hev und Marianne.
Schal roch ich den Geruch von ihm. Seit zwei Jahren war er tot. Dennoch war sein Geruch hier.
Marianne ging Pizza holen, aber ich kaufte ihr das nicht so ganz ab, da es mitten in der Nacht war.
Hev ging wie in Trance durch das Haus. Sie strich über die Möbel, fuhr die Türrahmen nach.
Dann verschwand sie im Obergeschoss. Etwas verloren stand ich in der Diele.
Ich stand einfach nur da. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Bis ich leises Schluchzen hörte.
Sofort rannte ich die Treppe hinauf und stürmte in ein Zimmer.
Hev kniete am Boden, umklammerte ein Stofftier und weinte bitterlich. Ich fühlte mich hilflos. Was sollte ich denn tun?
Trösten konnte ich sie nicht. Ich war ja gewissermaßen für das ganze Schlamassel verantwortlich. Aber ich konnte ja auch nicht nichts tun.
Vorsichtig und darauf bedacht ja keinen Laut von mir zu geben, kniete ich mich neben sie und nahm sie in die Arme. Sie klammerte sich an mich.
All die Tränen, die sie offensichtlich nie geweint hatte. All die Trauer, die sie in sich angestaut hatte.
All das kam jetzt zum Vorschein.
Sie weinte.
War sie jemals festgehalten worden?
Getröstet worden?
Hatte irgendjemand versucht ihr zu helfen?
Sie weinte und schniefte in mein T-Shirt. Es war mir egal. Ich wollte nur, dass es ihr besser ging.
Ich wollte sie um Verzeihung bitten, obwohl meine Taten unverzeihlich waren. Ich wollte sie anflehen bei mir zu bleiben, obwohl ich für ihr Leid, ihr Tränen, ihre Trauer verantwortlich war. Ich wollte die Zeit zurückdrehen, obwohl das unmöglich war.
Hev schluchzte weiter. Und ich hielt sie fest. Ich versuchte ihr Beistand zu vermitteln. Etwas, was sie wahrscheinlich nie zuvor gehabt hatte.
Ich hob sie auf meinen Schoß. Sie vergrub ihren Kopf an meinem Hals. Beruhigend strich ich ihr sanft über die Schultern. Die Narben. Sie waren leicht erhaben. Ich konnte sie durch das Shirt hindurch fühlen. Bis jetzt hatte ich sie nur an ihrer Wolfsgestalt gesehen. Im Moment konnte ich zwar nichts erkennen, da es relativ dunkel war, aber irgendwann würde ich sie sehen. Das nahm ich mir fest vor. Das war mein Ziel.
Bis jetzt hatte sie sie in ihrer Menschengestalt immer geschickt abgedeckt oder versteckt. Sei es durch andere Körperteile oder durch Kleidung.
Sie war wahrlich eine Meisterin der Geheimnisse.
Sanft fuhr ich durch ihr samtweiches Haar. Sie roch so gut... Ihr Duft machte mich süchtig und beinahe betrunken.
Hev schniefte ein letztes Mal.
"D-d-danke.", wisperte sie. Ich drückte sie an mich.
"Immer.", flüsterte ich in ihr Haar und küsste sie leicht auf die Stirn.
Sie schloss die Augen und lehnte sich an mich. Wahrscheinlich hatte sie vergessen, wer ich war.
Ich schluckte.
Sie würde mir nie verzeihen...

Marianne p.o.v.

Als ich spät in der Nacht wieder nach Hause kam, waren alle Lichter erloschen. Naja. Nach Hause. Hier war nicht mein Zuhause. Nicht mehr.
Leise schlich ich durch den Flur und legte die Pizza in die Küche. Dann ging ich Hev suchen. Aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Mein Stiefsohn ebenso. Sollte ich mir Sorgen machen? Nein, eigentlich nicht. Die beiden waren Mates. Sie würden sich nicht mehr weh tun.
Obwohl...
Je länger ich darüber nachdachte...
Hev war wirklich zu allem fähig. Woher nahm sie bloß ihre Kraft?
Ich sah ins Obergeschoss. Hev's alte Zimmertür war nur angelehnt. Genauso wie die von Tommys altem Zimmer. Ich atmete tief durch und öffnete die Tür zum Zimmer meines verstorbenen Sohnes. Sein Geruch schwallte mir entgegen. Entsetzt machte ich einen Schritt zurück. Ich konnte nicht. Ich war zu schwach. Die Trauer fraß mich auf. Ich musste hier weg. Schnellstmöglich.
Ich ging zu Hev's Zimmer. Leise lugte ich hinein. Hev und Elias lagen eng aneinander gekuschelt im Bett, trugen XXL T-Shirts und schliefen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.
Jetzt hatte Hev endlich jemanden, dem sie vertrauen konnte, auch wenn er es war. Das Mondlicht fiel durch einen Spalt im Vorhang in das Zimmer. Elias murmelte irgendwas und befreite seinen Arm von der Decke. Dann zog er meine Tochter an sich. Die Decke verrutschte. Das Mondlicht wurde von Hev's Haut reflektiert.
Und dann bemerkte ich noch etwas, was mir zuvor entgangen war.
An Hev's Hals klebte etwas. Blut.
Wie? Wie? WIE?!
Ich erschrak. Er hatte sie gebissen?
Sie gehörte ihm? Sie hatte es zugelassen? Wie? Warum?
Ich dachte, sie würde ihn hassen!
Ich floh. In die Küche. Die Pizza lag am Tisch. Ich öffnete die Schachtel und begann zu essen...
Frustessen...

Heaven's personal hell - Die Legende der Urwölfe #SonnenblumenAward2018Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt