11. Damals: Hev.

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Ich rannte. Tommy und ich hatten ausgemacht, dass der letzte dem anderen ein Eis ausgeben müsste. Er würde gewinnen. Weil ich ihn ließ. Auf seinen kleinen Schultern ruhte eine so gewaltige Bürde.
Er war der nächste Alpha unseres Rudels. Seit Dad, sein Beta und unser großer Bruder vor Jahren in einer Schlacht wegen eines versehentlichen Grenzübertrittes gefallen waren, führte der Sohn des ehemaligen Beta das Rudel. Und an seinem fünfzehnten Geburtstag würde Tommy der rechtmäßige Alpha sein.
"Ich habe gewonnen, Hev! Morgen bekomme ich eine Kugel Schokoeis!", schrie Tommy.
Ich lachte. Mit Tommy lachte ich viel. Wir hatten eine viel engere Bindung zueinander, als wir sie je zu unserem großen Bruder gehabt hätten. Er war zehn Jahre älter gewesen als ich. Und Tommy war eben nur vier Jahre jünger.
Wir kamen an unserem Treffpunkt an. Heute war Tommy's Geburtstagsfeier. Er wurde nämlich zwölf.
"ÜBERRASCHUNG!", brüllten die Rudelmitglieder.
Tommy strahlte mich an.
"Danke, Hev!", rief er und umarmte mich. Ich organisierte jedes Jahr diese Feier. Das war das einzige, was ich durfte. Ich durfte nicht trainieren, ich durfte mich nicht verwandeln. Warum? Weil ich ein Mädchen war und Mädchen normalerweise keine Wölfe sind.
Aber trotzdem verwandte ich mich von Zeit zu Zeit und durchstreifte mit meinem besten Freund die Wälder.
Ich bin ein Wolf und Dad's Tochter. Ich bin sechzehn. Warum ich nicht Alpha bin?
Keine Ahnung. Rein theoretisch könnte ich das Rudel übernehmen. Aber ich wollte nicht. Es war eine riesige Verpflichtung.
Und ich wollte Tommy nicht seinen Posten klauen, obwohl er es wahrscheinlich gutgeheißen hätte. Er war so schrecklich reif für sein Alter. Er war klug. Er war der bessere Alpha. So dachte ich jedenfalls.
"Hey, Hevy." Es gab nur eine Person, die mich so nannte.
Ich drehte mich um. Mein bester und einziger Freund Joe stand da. Er hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben. Er sah verboten gut aus. Wie immer eigentlich. Ich wusste nie, womit ich seine Freundschaft verdient hatte. Er war beliebt im Rudel. So wie Tommy. Und ich war die Außenseiterin. Die Wölfin.
"Du kriegst das immer richtig toll hin. Tommy liebt es.", grinste er. Ich lächelte und zuckte mit den Schultern. Er war mein kleiner Bruder. Mein Ein und Alles. Für ihn würde ich alles tun. Alles.
Joe lächelte mich an. Er war immer zu allen freundlich. Selbst zu mir. Aber in letzter Zeit...
Er war immer öfter in meiner Nähe. Ich genoss es.
Ich hatte ihn gerne. Sehr gerne.
"Komm, Hevy.", meinte er und nahm meine Hand. Das hatte er noch nie gemacht. Er lächelte. Es fühlte sich gut an. Wie von selbst verschränkten sich unsere Finger.
"Ich mag dich, Hevy.", flüsterte er.
"Ich dich auch.", antwortete ich. Er zog mich zu sich. An seine Brust.
Er war, wie alle männlichen Wölfe, sehr muskulös. Ich linste nach oben. Er war nur zwei Jahre älter als ich, aber trotzdem überragte er mich um einen ganzen Kopf. Er lächelte zu mir herab.
Langsam schob er mich auf's Dach. Von hier hatte man eine wunderbare Aussicht. Keine Menschenseele war hier. Ich lächelte und betrachtete den Sternenhimmel über mir.
"Eine Sternschnuppe. Wünsch dir was.", wisperte Joe in mein Ohr.
Ich schloss die Augen. Ich wünsche mir...dass...Tommy ein guter Alpha wird. Ja. Das wünsche ich mir.
Joe küsste mich. Was? Ich riss die Augen auf.
"Das habe ich mir aber nicht gewünscht!", meinte ich lachend. Er grinste verlegen.
"Was dann?", fragte er. Ich zuckte mit den Schultern. Das verriet ich ihm nicht. Vielleicht würde sich der Wunsch dann nicht erfüllen. Er hob eine Augenbraue.
"Geheimnisse?", wollte er wissen.
"Vielleicht?", grinste ich. Er lachte.
Dann strich er mir eine Haarsträhne aus der Stirn.
"Darf ich?", fragte er und legte seinen Kopf an meinen. Sanft sah er mich an.
Ich nickte leicht. Er lächelte.
Vorsichtig drückte er seine Lippen auf meine. In meinem Bauch flogen Schmetterlinge. Meine Beine wurden zu Wackelpudding.
"Hevy...", wisperte er. Ich lächelte leicht.
Ein gequältes Jaulen unterbrach uns.
Verwirrt fuhren wir auseinander.
"Was war das?", fragte ich atemlos. Joe zuckte mit den Schultern. Dann schnüffelte er. Oh Gott, das sah so niedlich aus!
Er erstarrte.
"Fremde Wölfe! Das ist ein Angriff!", sagte er entsetzt.
"Tommy!", riefen wir gleichzeitig. Er packte meine Hand. Gemeinsam liefen wir los.
"Hevy. Ich gebe dir Deckung und du hältst Ausschau nach Tommy. Okay?", fragte er eindringlich und umfasste mein Gesicht mit beiden Händen. Ich nickte mit weitaufgerissenen Augen. Er lächelte liebevoll.
Dann küsste er mich kurz. Und schon wühlte sich ein Wolf aus seiner zerrissenen Kleidung. Er stupste mich an. Vorsichtig lief ich los.
"Tommy!", rief ich leise. Raum um Raum durchsuchten wir. Nichts. Tommy war nirgends.
Joe deutete mit seiner Schnauze zur Treppe. Er war ein stattlicher Wolf. Sein Fell war dunkelgrau und glänzte im Mondlicht. Lautlos huschten wir in den Versammlungssaal. Ein hefiger Kampf tobte dort. Joe sah mich an.
Tommy wurde von Rudelmitgliedern beschützt. Ich bahnte mir unauffällig meinen Weg durch die Leichen. Ein Wolf sprang auf mich zu. Joe segelte an mir vorbei. Er riss den Wolf förmlich in Stücke.
Ich schnappte mir Tommy und brachte ihn zum Hinterausgang. Joe eilte uns nach bis ein anderer Wolf unseres Rudels in Gefahr geriet. Sofort eilte er ihm zur Hilfe.
Ich wusste, dass er wollte, dass ich Tommy in Sicherheit brachte.
Mit Tommy an der Hand lief ich durch die ausgestorbenen Flure.
Frische Luft wallte uns entgegen. Ich schnupperte. Ein fremder Geruch war dennoch da...
"Du rennst nach Hause, verstanden? Du hältst nicht an. Du kommst nicht zurück. Du versteckst dich in deinem Zimmer und rufst Mum an, verstanden?", befahl ich ihm. Er nickte.
"Ja, Hev.", flüsterte er.
"Du schaust auch nicht zurück. Du gehst nach Hause, verstanden?", wiederholte ich meine Anweisungen. Er nickte.
"Kommst du mit, Hev?", fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
"Du musst leben. Du musst laufen, Tommy. Ich halte dir den Rücken frei. Lauf, ja?", bat ich ihn. Er nickte und schlang seine dünnen Ärmchen um meinen Hals.
"Ich hab dich lieb.", murmelte er.
"Ich dich auch. Und jetzt, geh, Tommy.", ich gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Er lief los. Ich riss mir mein Kleid vom Körper.
Vorsichtig lugte ich zwischen zwei Containern hindurch. Ein riesiger schwarzer Wolf näherte sich. Ein Angreifer.
"LAUF!", schrie ich Tommy zu. Er drehte sich um, sah den Wolf und rannte. Mit einem Knurren sprang ich den Wolf an. Er war sehr groß. Er würde auch Joe überragen.
Er war ein Alpha. Ich wusste, dass ich keine Chance gegen ihn hatte.
Aber ich musste es versuchen. Für Tommy. Er musste leben.
Der Wolf biss mich. Ich jaulte. Das tat so weh!
Aua!
Aua!
Tommy!, raunte eine Stimme in meinem Kopf. Ich spannte mich an.
Tommy musste leben. ER MUSSTE LEBEN! Mit einem wütenden Knurren stürzte ich mich auf den Wolf. Ich wusste, dass ich sterben würde. Aber Tommy würde leben. Je länger ich durchhielt, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass er es schaffte...
Mit einer unerklärlichen Stärke fiel ich über den Wolf her.

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