Pünktlich wie ein Uhrwerk steigen mir Sekunde für Sekunde neue Bilder in die Gedanken. Meine Sicht ist bereits so von Tränen verschwommen, das ich nicht einmal mehr durch die Scheibe sehen kann. Gäbe es den Autopiloten nicht, hätte sich der Wagen schon längst um einen Baum gewickelt. Zusammengekauert sitze ich auf dem Fahrersitz und habe die Arme so fest um meine Beine geschlungen, dass ich schon ein Kribbeln in meinen Zehen spüre. Die Zähne habe ich ebenfalls fest zusammengebissen um jede, noch so kleine Träne zu unterdrücken. Ich habe bereits zu viel geweint, das bringt mir nichts, als noch mehr Kummer. Und mehr Kummer und Schmerz wie jetzt ertrage ich nicht mehr. Meine Seele ist nicht stark genug für so viel Leid, dass es mich schon beinahe umbringt. Wieso nur wird mir jeder den ich liebe entrissen? Habe ich nicht auch etwas Glück verdient? Muss ich so viel Schmerz ertragen? Kann es denn nicht einfach mal aufhören, irgendwann?
Bereits zum hundertsten Mal in den letzten sechs Stunden klingelt mein Handy. Wie schon die neunundneunzig Male davor, lasse ich es auf der Rückbank klingeln. Ich will jetzt nicht mit ihm sprechen. Wieso versteht er das nicht?
Ich ertrage es nicht darüber zu reden, mit niemandem. Nicht mit Steve, nicht mit Maria und auch nicht mit Clint oder wer sonst noch auf die Idee kommt meinen Psychologen spielen zu müssen. Wieso können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen und ihren eigenen Schmerz ertragen?
Zusehen zu müssen, wie die Ärzte versuchen ihn wiederzubeleben, war zu viel. Und dann noch sehen zu müssen wie sie scheitern, hat mich innerlich zerbrochen, noch mehr als ich es vorher schon war.
Es scheint als kreist der Tod, wie eine Fliege um mich herum und infiziert jeden aus meinem Umfeld mit einer tödlichen Krankheit, um mir einen nach dem anderen wegzunehmen. Ich ertrage das alles nicht mehr, es muss aufhören!
Niemand von ihnen kann sich vorstellen wie das ist. Sie denken alle, nach ein paar Wochen sei alles wieder „okay", aber das wird es nicht. Es wird nie wieder „okay" sein!
Genauso wie Loki wird er für immer fort sein. Wieso nur mussten sie mich allein lassen? Konnten sie denn nicht sehen, dass ich sie mehr als alles andere brauche? Dass sie wie meine Luft zum Atmen sind? Erst musste die erste Person gehen, für die ich jemals so starke Gefühle hatte, dass ich beinahe leer ohne ihn war. Und nun hat auch der Mann, der mich großgezogen hat, mich wie sein eigen Fleisch und Blut behandelt und geliebt hat, verlassen. Und als wäre alles nicht schon schlimm genug, habe ich ihn zum Schluss wie Dreck behandelt. Ich habe ihn ignoriert, ihn meine Wut spüren lassen und nicht über Konsequenzen nachgedacht, wie eine selbstsüchtige, dumme Kuh. Wie eine echte Sirene. Thor hat mich davor gewarnt. Odin hat mich davor gewarnt. Alle wussten es, alle wussten ich müsse aufpassen um nicht abzurutschen und zu dem zu werden, was tief in mir schlummert und nur darauf wartet frei gelassen zu werden. Ich hätte es wissen müssen. Spätestens nachdem ich Lokis Worte mitbekam, hätte ich es merken müssen. Nicht einmal er war sich sicher, dass ich noch die bleiben würde die ich bin. Vielleicht haben sie sich getäuscht und ich brauch keine Seele um ein Monster zu werden. Vielleicht muss ich mich nur wie eines verhalten. Wie konnte ich ihm das nur antun? Er hat mich großgezogen, mich beschützt und war immer für mich da, wenn er konnte. Wie konnte ich ihn nur für eine Frau hassen, die ich nicht einmal kenne? Sie hätte mich vermutlich sterben lassen, wenn sie Loki nicht begegnet wäre. Sie war genauso selbstsüchtig und bösartig wie alle anderen. Sie hat mich als Pfand benutzt!
Bei dem Gedanken läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Er hat mich gerettet und ich habe es ihm mit Verachtung gedankt. Und das letzte was ich tat, war ihm meine wahre Natur zu zeigen und ihn in seinen Tod zu manipulieren. Hätte ich es nicht getan, hätte der Soldat ihn vielleicht leben lassen. Vielleich wollte er ihn nur entführen und wir hätten ihn retten können. Aber ich musste es natürlich wieder einmal besser wissen und alles zerstören.
„Ziel erreicht", lässt mich die Stimme des geklauten Wagens wissen. Nachdem ich aus dem Raum gerannt bin und ich unten das Auto sah, konnte ich nicht anders. Zu Fuß wäre mir nur Steve hinterhergekommen und dafür hatte ich keine Nerven. Er mag mein bester Freund sein, aber ich ertrage gerade niemanden um mich herum.
Wie benebelt drehe ich die Schlüssel um und ziehe sie aus dem Zündschloss. Ich öffne die Tür und steige aus. Sofort dringt die frische Luft in meine Kehle. Endlich zu Hause. Vor meinen Augen breitet sich das riesige Gellende der Farm aus. Unser Haus, unsere Felder, die Scheune, nichts hat sich verändert. Selbst die Bäume und Büsche stehen noch an Ort und Stelle. Ich wünschte mir ein Lächeln würde auf meinen Lippen erscheinen, doch ich kann mich nicht dazu überwinden. Er wäre froh, wenn er wüsste, dass ich hier bin. Er würde sich freuen, dass ich wieder da bin wo ich hingehöre.
Ich schließe die Tür des Wagens und mache mich auf den Weg. Bei meinen schnellen Schritten auf dem führenden Weg, knirscht der grobe Sand unter meinen Füßen. Dieses Gefühl habe ich schon ewig nicht mehr gespürt. Der Geruch, der aufblühenden Felder unter der warmen Frühlingssonne steigt mir in die Nase. Tief atme ich ihn ein. Es tut gut endlich wieder hier zu sein.
Fast schon rennend, begebe ich mich zu unserem alten Haus. Aus der Topf-pflanze neben der Bank auf der Veranda, nehme ich den Haustürschlüssel und sperre mit zitternden Händen auf. Wärme strömt mir entgegen, als ich die Tür einen Spalt öffne. Sofort beiße ich mir wieder auf die Zähne um meinen Tränen Einhalt zu gebieten. Ich war hier glücklich, wir waren hier glücklich. Ich darf mein Zuhause nicht beschämen indem ich es mit meinen Tränen entweihe.
Vorsichtig, als könnte ich mit meinen Füßen etwas kaputt machen, trete ich ein. Ich lege die Schlüssel beiseite und schließe die Tür hinter mir. Bei einem Blick auf den Boden, sehe ich meine Schuhe, die den ganzen Dreck des Bodens mit ins Haus getragen haben. Er hasste es wenn ich nicht die Schuhe auszog, bevor ich reinkam. Er meinte immer, er wolle nicht das ganze Haus putzen wenn er von der Arbeit heimkäme. Rasch streife ich sie mir von den Füßen und stelle sie auf die Matte vor der Tür. Mit nackten Sohlen streife ich langsam durch den Gang. Er hat gelogen, bemerke ich. Er sagte das Haus stehe leer, doch das stimmt nicht. Es ist noch alles da, jedes Foto an der Wand, jedes Möbelstück, jeder Teppich. Er brachte es nicht übers Herz es auszuräumen, aber scheinbar auch nicht hier zu wohnen. Einen Stich in mein Herz versetzt mir der Gedanke, dass auch seine letzten Wort Lügen waren. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Eine einzelne Träne läuft mir meine rechte Wange hinab. Ungeachtet gehe ich in unser Wohnzimmer. Auch hier steht noch alles an seinem Platz. Das Sofa, der kleine Tisch, der Fernseher, die Kommode, an die ich als Kind immer mit meinen Füßen hängen geblieben bin. Nichts hat sich hier verändert. Was gäbe ich nicht alles dafür, wenn sich auch mein Leben nicht verändert hätte. Ich habe alles ruiniert, nur weil ich einmal raus wollte, weil ich nur an mich dachte und nicht an andere. Keiner mag es sehen, doch ich bin mehr Sirene als ich selbst.
Unzähmbare Wut staut sich in mir auf. Alles ich meine Schuld. Ich bin für seinen Tod verantwortlich, ich habe ihn in diese Situation gebracht. Es ist als habe ich ihn mit meinen eigenen Händen getötet. Ohne nachzusehen was es ist, nehme ich mir den nächstbesten Gegenstand in Reichweite und werfe ihn gegen die Wand vor mir. Aus tiefster Kehle schreie ich einmal laut auf.
„Wieso Nick, wieso?!", brülle ich die Scherben auf dem Boden an. Der gläserne Rahmen liegt zersplittert auf dem Boden. Gebannt sehe ich auf das Bild unter den Scherben. Ich sinke auf meine Knie und greife nach dem Foto. Die Splitter rutschen zu hunderten auf den Boden. Tränen kämpfen sich ihren Weg frei.
„Es tut mir leid, Nick. Ich wollte das alles nicht." Ein Schluchzen lässt sich nicht vermeiden. „Ich wollte dir niemals wehtun, ich war nur...sauer. Ich wusste nicht wie ich damit umgehen soll." Einzelne Strähnen fallen mir ins Gesicht und werden bei der Berührung meiner Wangen feucht.
„Ich wollte dich darauf ansprechen, aber ich konnte es nicht. Ich hatte Angst. Angst vor der Wahrheit, Angst vor weiteren Lügen." Mein ganzer Körper beginnt zu zittern.
„Hätte ich gewusst, was ich damit anrichte, hätte ich dir die Wahrheit gesagt. Es tut mir leid." Ich sehe runter auf das Foto. Damals war alles unbeschwert. Mein zwölfter Geburtstag. Ich dachte ich sei jetzt schon groß und bräuchte keine Kinderparty mehr, doch Nick weigerte sich und schenkte mir trotzdem eine. Sogar ein kleines Pony war da, auf dem ich stundenlang geritten bin. Es war einer der schönsten Geburtstag an den ich mich erinnere.
„Das kannst du mir nicht antun, bitte. Ich brauche dich doch. Du kannst mich jetzt nicht einfach verlassen, ich schaffe es nicht ohne dich. Komm zu mir zurück, Nick, bitte." Ich schluchze wild vor mich hin und zerknittere das Foto in meinen Händen. „Ich konnte dir so vieles nicht sagen, das kann es nicht gewesen sein. Du kannst nicht einfach weg sein." Meine Kehle wird so trocken, dass ich kaum noch Luft bekomme. Alles in mir verkrampft sich.
„Zoe", erklingt plötzlich die wehleidige Stimme eines Mannes hinter mir. Hoffnung keimt in mir auf. Ich drehe mich so schnell nach hinten, dass meine Augen kaum mitkommen. Der Funke erstirbt, noch bevor er feuerfangen konnte.
„Verschwinde", fauche ich kalt. Was tut er schon wieder hier, ich will, dass er aus meinen Gedanken verschwindet. „Ich will dich hier nicht haben, Loki." Wie eine Statue bleibt er im Türrahmen stehen und sieht gequält zu mir hinunter. Ich sitze immer noch wie ein Häufchen Elend zwischen den Scherben.
„Es tut mir leid, Zoe", flüstert er und wagt sich einen Schritt näher. Sofort weiche ich zurück und setze mich genau in die Scherben.
„Hast du mich nicht gehört? Ich sagte du sollst verschwinden!", keife ich ihn an und ignoriere den Schmerz in meinen Beinen. Loki beißt auf seinen dünnen Lippen und versucht ruhig zu bleiben.
„Ich will dich hier nicht haben."
„Ich werde aber nicht gehen, so lasse ich dich nicht allein." Zitternd starre ich ihn an. Wacklig schaffe ich es auf meine Beine. Lokis Blick heftet sich direkt auf meine blutenden Beine.
„Du bist doch nicht einmal wirklich hier", schluchze ich. „Du bist ein Trugbild meines Verstandes. Der echte Loki ist tot und er kommt nie wieder zu mir zurück, genauso wie..." Ich stoppe. Loki ballt seine Hände zu Fäusten und sieht mich so traurig an, dass mir nur noch mehr Tränen über die Wangen kullern.
„Ich kann das nicht mehr, Loki." Schützend lege ich meine Hände um meine kalten Arme. „Ich ertrage diesen Schmerz nicht mehr. Und wenn du nicht bald aus meinem Kopf verschwindest gehe ich noch zu Grunde." Er denkt nicht lange nach und kommt mit wenigen Schritten zu mir. Fest drückt er mich an sich. Einen Moment lang genieße ich seine Berührungen, doch dann flammt Erkenntnis wieder in mir auf. Ich stoße ihn von mir.
„Hör auf damit!", schreie ich verzweifelt. „Du existierst nicht! Du hast mich verlassen, genau wie es alle anderen auch tun. Du hast mir mein Herz gebrochen, es in Stücke gerissen!"
„Das war nie meine Absicht. Zoe, ich wollte dich doch nur beschützen", verteidigt er sich und kämpft um Fassung.
„Beschützen? Deinetwegen hätte ich mich beinahe in den Tod getrieben!"
„Ich hätte das niemals zugelassen."
„Du bist tot, du hättest es nicht verhindern können!" Seine Augen gleiten zum Boden, als könne er es nicht ertragen mich anzusehen.
„Es ist alles meine Schuld", flüstere ich kopfschüttelnd. „Wäre ich nicht so dumm gewesen nach New York zu fahren, würde alles noch so sein wie davor. Nick würde noch leben. Ich würde noch leben." Loki sieht wieder zu mir.
„Das tust du, und schon bald wird alles wieder gut, du musst nur noch ein wenig durchhalten", erwidert er und kommt mir wieder näher.
„Nichts wird jemals wieder gut werden, Loki!", krächze ich. „Ich wünschte ich hätte dich niemals getroffen. Du hast alles kaputt gemacht, du hast mir das Herz gebrochen und mich damit getötet!"
„Sag so etwas nicht!", schreit er wütend und packt meine Arme. Er zieht mich an sich heran und drückt mich mit seinen Augen nieder. Die Smaragde funkeln vor Wut.
„Ich wollte dir kein Leid zufügen. Ich wusste nicht wie sehr es dich treffen würde. Hätte ich es auch nur erahnen können, dann hätte ich dich niemals gehen lassen." Seine Wut auf meine Worte verschwindet. Trauer bleibt zurück.
„Du weißt nicht wie viel du mir bedeutest." Seine Arme schlingen sich um meine Taille und drücken mich fester an ihn, bis nicht einmal mehr Staub zwischen uns passt. „Zoe, ich..." Er unterbricht sich. Meine Augen weiten sich, als ich die Wahrheit in seinen erkenne. Tränen über Tränen laufen weiterhin über mein Gesicht. Loki muss es nicht aussprechen, damit ich ihn verstehe.
„Ich liebe dich, mein Engel", überwindet er sich. Mein Herz beginnt zu rasen. Loki lässt mir keine Zeit für eine Reaktion, oder seine Worte zu erwidern. Er drückt seine hungrigen Lippen auf meine und zieht mich in eine andere Welt. Eine Welt voller Freude und Dunkelheit zugleich.Huiii, dies Kapitel war wirklich sehr emotional...
Ich bin wirklich stark auf eure Meinung gespannt. :) Ich hoffe natürlich es hat euch gefallenWer auch immer diese Bild gezeichnet hat, verdient ein großes Lob. Es gefällt mir sehr, sehr gut und passt perfekt zu diesem Kapitel.
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Die letzte Sirene - The Winter Soldier
FanficNach dem Tod von Loki, schaffte es Zoe nur schwer zurück in den geregelten Alltag. Sie musste einiges ertragen und verarbeiten, doch dank Steve und ihren Freunden schaffte sie es sich aus ihrem Loch zu befreien. Normalität kehrte zurück, wenn auch n...