VII

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Ich hätte vor Nervosität platzen können als ich allein in unserem Wohnzimmer saß und versuchte mich mit Fernsehen abzulenken.
Meine Mum war mit ihrer Kindheitsfreundin Amelie in den Park gegangen während ich darauf wartete von Felipes Chauffeur abgeholt und zu ihm gebracht zu werden. Ich hoffte nur, dass Xavier mich mochte und ich mit der Situation klarkommen würde.

Die Klingel unterbrach meine verkrampfte Nachdenksession, wofür ich wirklich dankbar war. Ich nahm meine Tasche und lief an die Tür. Aus Gewohnheit streckte ich mich und sah aus dem Türspion.
Holy. Shit.
Draußen standen zwei muskelbepackte Männer, einer von ihnen hatte eine Glatze und ein markantes Gesicht wobei der andere schulterlange Haare und eine kleine Tätowierung an der Schläfe hatte. Das war definitiv nicht der Chauffeur der Felipe immer herumkutschierte.
Panisch blickte ich mich im Flur um. Was ist, wenn Felipe die beiden nicht mal geschickt hatte und es einfach Kidnapper waren? Was ist, wenn beide Auftragskiller waren die Lauren, meine Erzfeindin in der High-School, auf mich gehetzt hatte? Oder was ist, wenn beide von der Wohnungsverwaltung waren und jetzt doch früher die Miete wollten?
Gott, ich wüsste nicht welches der drei Szenarien schlimmer wäre...
Ich lief zügig ins Wohnzimmer zurück und nahm die Fernbedienung, die ich mit der Rückseite nach außen in meinen Hosenbund steckte. Der Kopf lugte heraus und ich nickte zufrieden, es sah fast so aus als hätte ich eine Waffe.
Na ja...so ungefähr... aber falls die beiden eine Bedrohung waren könnte ich ja so tun als sei es eine Waffe. Genius.
Dann nahm ich noch mein Pfefferspray aus meiner Tasche, für alle Fälle, und eilte in die Küche um Mamas Schweizer Taschenmesser zu holen, den sie mal von Lillian zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
Es klingelte noch zwei weitere Male bis ich die Türe öffnete. Ich sah beide Männer misstrauisch an während sie mich emotionslos beäugten. Gerade als Glatzkopf langsam seine Hand aus seiner Jacke nahm bekam ich ein ungutes Gefühl. Was ist, wenn er eine Pistole aus seiner Tasche zieht und mir hier und jetzt eine Kugel in den Kopf jagt? Was ist wenn meine Mutter heimkommt und meine Gehirnmasse verstreut auf der Wand kleben sieht, sich dann an meinen leblosen Körper kniet und weint? Oder was ist, wenn Frau Garrets Katze ihr zuvorkommt und mit ihren Katzenfreunden meinen Körper an Lucifer opfert?
Okay, das geht zu weit...
Aus meinen Tagträumen erwacht, schob ich so indiskret wie möglich meinen Cardigan zur Seite damit man ein Teil meiner 'Pistole' sehen konnte. Langhaar zog seine Augenbrauen zusammen als sein Blick auf meine Waffe fiel. YES! Es schien zu funktionieren!
"Ms. Troypes, wir sollen Sie von Herr Monteiro aus abholen und in sein Anwesen fahren. Wenn Sie so nett wären, die Fernbedienung wegzulegen und uns zu folgen", sprach er dann monoton.
Mit knallroten Wangen, zog ich die Fernbedienung aus meiner Hose und legte sie peinlich berührt auf den Schuhschrank bevor ich meine Tasche nahm und den beiden Felsen aus der Tür folgte.
Ich staunte nicht schlecht als wir in den in den Hof einer Villa einbogen. Damn war Felipe reich...
Glatzkopf, der am Steuer saß, hielt an und drehte sich zu mir.
"Sie können bereits aussteigen, Herr Monteiro wartet drinnen auf Sie", kam es von ihm.
Etwas eingeschüchtert von Glatzi's tiefer Stimme und dem monströsen Anwesen vor mir, stieg ich aus und lief die letzten paar Meter hoch zu der Eingangstüre.
Okay, einatmen, ausatmen, du schaffst das Lorena. Du schaffst das. Du bist klug, talentiert und vorbereitet. Du kriegst das hin. Du bist geboren für diesen Job. Du wirst dem Jungen und deiner Mutter helfen können. Du kannst das. Du-
"Dir ist bewusst, dass du die Klingel betätigen musst oder?", ertönte auf einmal Felipes Stimme, der vor der nun geöffneten Tür stand. Ich schreckte kurz auf bevor ich ihn mit einem 'I fucking hate you' Blick ansah.
"Oh ach so danke, deshalb hat es nicht mit 'Sesam öffne dich' geklappt", antwortete ich sarkastisch.
"Kein Problem", bekam ich unbeeindruckt zurück als er zur Seite wich damit ich eintreten konnte. Mit einem zittrigen Atemzug lief ich in die Villa und versuchte nicht zu quietschen als ich die Inneneinrichtung sah. Gott, das war definitiv das Haus meiner Träume.
"Xavier ist in der Küche", sagte Felipe und führte mich dorthin. Ein Stechen breitete sich in meinem Brustkorb aus als ich den fragilen Jungen am Esstisch sah. Vor ihm stand ein ungerührter Teller Nudelauflauf. Sein Gewicht sah nicht wirklich gesund aus und auch sonst war seine Haut eher blass. Ein melancholischer Ausdruck auf seinem Gesicht. Man konnte förmlich die Traurigkeit und den Schmerz fühlen, den er durchlebte. Seine Haltung und sein allgemeines Auftreten sagten alles.
"Hallo", grüßte ich ihn mit einem freundlichen Lächeln. Er hob seinen Blick von dem Teller und sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen und fragender Mimik an.
"Ich bin Lorena", stellte ich mich vor und streckte ihm meine Hand hin, die er ansah als wäre es ein fremdartiges Wesen. Er sah kurz zu Felipe bevor er sie zaghaft schüttelte.
"Und du bist wohl Xavier. Willst du mir vielleicht sagen wie alt du bist?", fing ich mit etwas Smalltalk an doch bekam keine Antwort. Er mied jeglichen Augenkontakt und starrte stattdessen mit leeren Augen auf den vollen Teller.
"Xavier, wie wär's wenn du schon mal hoch in dein Zimmer gehst? Wir kommen gleich nach", sagte Felipe schließlich. Immer noch schweigend lief Xavier aus der Küche. Als er schließlich außer Sicht- und Hörweite war wandte ich mich an Felipe.
"Er mag mich nicht. Er redet nicht mal mit mir", sprach ich die Tatsachen aus, was er sofort verneinte.
"Nein, es liegt nicht daran. Es könnte nur sein das ich vergessen habe eine Kleinigkeit zu erwähnen", gestand Felipe. Fragend zog ich meine Augenbrauen hoch.
"Und was wäre das?", hakte ich nach.
"Er ist stumm", bekam ich zurück. Ich hielt für eine Sekunde den Atem an doch bevor ich etwas dazu sagen konnte redete er weiter.
"Oder besser gesagt er weigert sich zu reden. Er-, er hat etwas erlebt was ihn schwer traumatisiert hat und seitdem spricht er nicht und isst nur das nötigste", beendete Felipe den Satz.
Meine Augen wanderten unwillkürlich zur Küchentüre aus der der kleine Junge gegangen war.
Das Stechen in meiner Brust wurde prominenter und ich biss leicht auf meine Unterlippe. Minuten vergingen in denen keiner von uns beiden was sagte.
"Also führst du mich jetzt in sein Zimmer oder soll ich versuchen den Weg allein zu finden?", fragte ich schlussendlich, ein entschlossenes Lächeln auf meinen Lippen.
Felipe blieb stocksteif stehen und betrachtete mich überrascht. Daraufhin blinzelte er sich aus dem tranceartigen Zustand, in welches er verfallen war.
"Ehm klar, komm mit", bekam er nach einiger Zeit heraus und ich folgte ihm aus der Küche, die Treppen hoch bis zu Xaviers Zimmer. Vor der Tür blieben wir beide stehen.
"Du kannst runtergehen. Ich krieg das auch allein hin", versicherte ich ihm während ich bereits klopfte. Felipe nickte nur und ließ mich dann stehen. Nicht mal eine Minute später wurde die Tür von Xavier geöffnet.
"Hallo nochmal", grüßte ich ihn lächelnd ein zweites Mal. Da nichts kam redete ich einfach weiter.
"Darf ich reinkommen?" Xavier trat zur Seite und ließ mich ein. Unwillkürlich scannten meine Augen das Zimmer. Es war ein eher kahles und durchschnittliches Zimmer bis auf ein Detail.
Er hatte ein riesiges Regal voller Bücher und die meisten davon waren Handbücher über Computer und verschiedene Softwares.
"Wow Respekt. Du hast mehr Bücher als ich und meine Mutter zusammen", kommentierte ich als ich die Bücher näher betrachtete. "Und du verstehst auch die ganze Computer-Sprache die in diesen Software Büchern benutzt wird?", fragte ich überrascht und drehte mich zu dem brünetten Jungen. Ein leichtes pink war auf seinen Wangen zu sehen als er sich schüchtern am Nacken kratzte und nickte. Ich konnte nicht anders als zu Lächeln.
"Nicht schlecht. Also kennst du dich auch mit Computern und Technik aus nehme ich an."
Wieder nickte er und blickte schüchtern zu Boden.
"Also falls mein Laptop ein Update braucht oder ich ein Virus habe, komme ich zu dir", fügte ich hinzu und boxte ihm leicht auf die Schulter. Überrascht sah er hoch und ich bekam schon Panik das ich ihm weh getan hatte, doch stattdessen sah ich einen winzig kleinen Schatten seines Lächelns. Zwar war es noch weit von einem richtigen entfernt aber es war ein Anfang. Und nachdem das Eis etwas aufgetaut war saßen wir beide auf seinem Bett und ich fing an zu erzählen. Es schien als würde es ihm gefallen, wenn ich sprach und er einfach nur zuhören konnte.
Also erzählte ich über das College, über meine Mum und über Lillian. Natürlich redete ich nur über die schönen und lustigen Erinnerungen und ließ Details, wie dass Lillian nun Stripperin oder meine Mum schwer krank war weg.
Wir hatten jegliches Zeitgefühl vergessen und waren zu vertieft in unsere Konversation, beziehungsweise meinen Monolog und sein gespanntes Zuhören das wir nicht bemerkten, dass Felipe am Türrahmen stand. Erst als er seinen Hals klärte sahen wir zu ihm auf.
"Es ist bereits halb acht", informierte er uns, ein kleines Lächeln war auf seinen Lippen.
"Oh ich sollte wohl jetzt gehen" sagte ich dann und blickte auf mein Handy nur um zu sehen das meine Mutter mir geschrieben hatte. Xavier sah etwas enttäuscht aus was mich zugegebener Weise erfreute. Das hieß nämlich, dass er die Zeit genossen hatte.
"Gut also bis dann Xavier", verabschiedete ich mich lächelnd und stand auf. Überraschenderweise stand Xavier auch auf und legte zögerlich seine Arme um meine Taille. Erst Sekunden später registrierte ich, dass er mich umarmte. Ein Lächeln schlich sich wieder auf meine Lippen und ich umarmte den fragilen Jungen zurück. Ein warmes Gefühl breitete sich in meinem ganzen Körper aus und ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Es hatte etwas herzzerreißendes an sich ein Kind zu sehen, dass so traumatisiert war, dass es aufgegeben hatte zu sprechen.
Nach der Verabschiedung stiegen Felipe und ich in sein Auto. Er wollte mich persönlich heimfahren.
Und gerade als wir aus dem Hof fuhren liefen uns zwei Jungen entgegen. Einer älter als der andere.
Felipe nickte ihnen zu während die beiden Jungen mich verblüfft anstarrten.
Als wir die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, unterbrach Felipe die Stille.
"Die zwei Jungs vorhin waren meine Brüder, der ältere von ihnen ist Alec und der andere Caleb", sagte er wobei er seine Augen nicht von der Straße nahm. Das war das erste was er gesagt hatte seitdem mich Xavier umarmt hatte. Die ganze restliche Zeit war er schweigsam gewesen.
"Das ist das erste Mal seit Jahren dass ich Xavier so erlebt habe", gab er schließlich nach einer kurzen Pause von sich. Nicht wissend was ich darauf antworten sollte, lächelte ich nur leicht.
Er hielt vor dem Apartmentblock an in dem ich wohnte, doch ich machte noch keine Anstände auszusteigen, da mich Felipe mit einem undefinierbaren Ausdruck musterte.
"Danke", sprach er auf einmal. Nichts als Verwirrung machte sich in meinem Kopf breit. Eigentlich sollte ich mich ja für das Jobangebot bedanken.
"Ehm nein, ich muss dir für den Job danken", antwortete ich ihm dann.
Seine Lippen zuckten leicht hoch. "Ich hol dich morgen um die gleiche Uhrzeit ab", verabschiedete er sich noch bevor ich ausstieg und in unsere Wohnung lief.
Es war das erste Mal, dass ich mich auf einen Arbeitstag freute.

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