In Memoriam

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«How many nights does it take to count the stars? That's the time it would take to fix my heart.»


Loslassen tut weh. Und so halten wir gewaltvoll fest, an den Fesseln, von denen wir denken, dass sie uns zusammenhalten.

Doch schau einmal die zarte Haut deiner Finger an. Glänzen deine Handflächen schon rot vom Blut? Erkennst du darauf rötlichbraune Narben, wie die Striemen einer Geißel? Du glaubst, es ist stark, an dem festzuhalten, was dich verletzt? Du kannst es loslassen, weißt du?

Auch Gedanken? -Besonders Gedanken. Denn sie zerstören nicht deine Hände. Sie zerstören dein Herz.


***


Eisige Tränen auf meinen Wangen, wie frostige Finger.

Ich ließ Louis zurück, wie ein Kerze, die einem selbst die kälteste, dunkelste Nacht erhellt. Und dabei fiel mir auf, wie einsam ich eigentlich war. Ich dachte zurück an den Beginn dieses Abends und wie ich, vor Narzissmus und Sturheit ganz blind behauptet hatte, gerne alleine zu sein. Bullshit. Wer ist schon gerne allein?

Tief in Gedanken lief ich Louis Straße zurück- schlich, um genau zu sein. Ich sträubte mich plötzlich gegen den Weg, den ich für mich ausgewählt hatte.

Zuerst hielt ich den vertrauten, zusammengekauerten Schatten auf dem Bürgersteig für ein Gespinst meiner Fantasie- erschaffen aus Wehmut und Einsamkeit, doch je näher ich kam, umso überzeugter war ich davon, dass der Schatten tatsächlich aus Fleisch und But war.

Aimee...

Geduldig wartend hockte sie dort, die Haut so blass, wie der Schnee zu ihren Füßen. Unschuldig blinzelte sie zu mir hinauf und sie saß exakt unter derselben, verfickten Laterne, unter der ich sie zurückgelassen hatte. Mit der Ausnahme, dass sie dort nicht gesessen hatte, als ich nach ihr gesucht hatte.

Ich war plötzlich so erleichtert, sie wohlbehalten dort zu sehen, dass ich beinahe laut aufgeschluchzt hätte. Doch, wie so oft entluden sich meine Gefühle in einem Schwall aus Wut, den ich unbarmherzig, wie tausende kleine Giftpfeile auf die arme Aimee abfeuerte.

„Wie ist es gelaufen?", fragte sie gerade, als ich mich vor ihr aufbaute.

„Sag mal, hälst du mich für komplett bescheuert?!", schrie ich sie an. Verzeihung- wenn ich es richtig erzählen will: Ich brüllte. Ich brüllte sie an. Und ich fragte mich in jenem Augenblick nicht, wie das wohl auf einen Außenstehenden gewirkt haben mochte. Ein komplett in schwarz gekleideter Junge, der sich vor einem wehrlosen, schmalen Mädchen aufbaut, das viel zu dünn angezogen vor ihm im Schnee kniet...

Und sie sagt nichts, das Mädchen. Sie hockt einfach dort und sieht ihn an, den leeren, traurigen Jungen, der sie anschreit, weil er sie irgendwie, aus ihm völlig unerklärlichen Gründen in sein Herz geschlossen hat.

Ich zitterte vor Erregung, Erleichterung und Wut und am liebsten hätte ich sie vom Bordstein hochgezerrt- in meine Arme.

Ich zwang mich, innezuhalten und die dumme, völlig unbegründete Wut wegzuatmen. Als ich wieder zum Sprechen ansetzte, war mein Tonfall tatsächlich etwas ruhiger: „Wo warst du?"

„Ich... war die ganze Zeit über hier. Ich bin nur einmal ganz kurz die Straße ein Stück hochgelaufen.", schuldbewusst schaute sie auf ihre Stiefel hinab.

„Warum?", herrschte ich sie an und sie zuckte zusammen. Sie hatte die Hände komplett in die Ärmel meiner Jacke zurückgezogen, der Kragen war hochgeschlagen, doch ich vermutete, dass sie zusätzlich den Kopf einzog, um sich vor mir wegzuducken. Ihre ganze Körperhaltung sprach Unterwürfigkeit aus.

CloverfieldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt