Cicatrices

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"Shadows settle on the place, that you left. Our minds are troubled by the emptiness."

Und bei Gott, ich sage dir, sie hatte recht.

Mein ganzes Leben lang gab ich immer anderen die Schuld für meine Fehler.

So sind Menschen eben, nicht?

Aber am Schluss gab es nur noch mich. Es ist keiner mehr da, den ich beschuldigen könnte, weil sie alle weg sind. Ich bin allein. Und es ist meine Schuld.

Und sie hat recht, denn es gibt keinen Menschen auf diesem Planeten, den ich so sehr verabscheue, wie mich selbst...

***

Sie war weg. Sie war tatsächlich weg. Diese Erkenntnis traf mich überraschenderweise härter, als gedacht. Obwohl Aimee absolut nervig war und ihr feines Näschen in meine Angelegenheiten steckte, hatte ich ihre Gesellschaft letztendlich beinahe genossen. Innerhalb dieser wenigen Stunden hatte ich mich an meinen seltsamen Schatten gewöhnt und jetzt lief ich einsam durch die verschneiten Straßen, mich immer wieder nach ihr umdrehend, mit dem Ergebnis, dort wo ich sie erwartete, nur gähnende Leere vorzufinden.

Ich konnte mich nur einen Idioten nennen, weil ich die ganze Zeit an dieses Mädchen dachte und daran, dass sie verdammt nochmal recht hatte. Mit allem.

Konzentrier dich, Harry!

Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Wo sie wohl hingegangen war? Vermutlich war sie auf dem Weg Nachhause und starrte aus dem Fenster der U-Bahn, hinter dem eine Stadt an ihr vorbeizog, die sie aus tiefster Seele hasste. So, wie den Jungen, den sie immer wieder hatte zurechtweisen wollen, weil sie wie durch ein Wunder an eine gute Seite in ihm glaubte. Aber ich hatte keine guten Seiten. Mochte sein, dass es eine Enttäuschung für sie gewesen war, das herauszufinden. Für mich jedoch sollte es nur eine bittere Wahrheit sein, die ich schon lange kannte und die wieder einmal bestätigt wurde. Und dennoch: Ich hatte beinahe gehofft, sie hatte recht. Für einige Stunden hatte ich darauf hoffen können, dass sie irgendwie Erfolg haben würde. Dass da noch etwas in mir schlummerte, das hell war. Gut.

Doch nun, da auch diese lächerliche Hoffnung gestorben war, sollte mein Blick wieder auf das Entscheidende geschärft sein. Die Briefe in meiner Tasche. Briefe, die ich besser endlich einwerfen sollte, bevor ich für immer verschwand. Aus reiner Gewohnheit tastete ich nach ihnen, nur um im nächsten Augenblick in helle Panik zu verfallen. Meine Briefe! Sie waren weg. In meiner Jackentasche...

Eine dunkle, viel zu leichte Jacke, in der ein schmales Mädchen versank. Ein Mädchen, das getarnt in den Farben der Nacht durch New Yorks Straßen wanderte. Ein Mädchen, das an mich geglaubt hatte.

Aimee hatte meine Briefe. Meine letzte Chance, um Vergebung zu bitten in Schriftform.

Vielleicht war es nur ein dummer Zufall, vielleicht war es Schicksal, dass ich mich auch dem nächsten Menschen aus meiner Vergangenheit von Angesicht zu Angesicht stellen musste, auch wenn ich so viel lieber gekniffen hätte. Aber die Abwesenheit der Briefe ließ mir keine Wahl. Ich musste gehen, und zwar bald, da die Nacht erbarmungslos voranschritt, ohne auf die Probleme eines zynischen Kerls mit einem Menschenproblem zu achten.

Es dauerte nicht allzu lange, bis ich in seiner Gegend war. Meine Gedanken überschlugen sich, während meine erstarrten Finger zu zittern begannen. Mein Herz raste in meiner Brust, denn ich hatte keine Ahnung, wie er wohl auf mein Auftauchen reagieren würde.

Ich hatte gewusst, dass Liam wütend auf mich war, aber gleichzeitig hatte ich so eine Vorahnung gehabt, dass er mir zumindest zuhören würde- wenn auch widerwillig. Die Begegnung mit Liam war verhältnismäßig einfach gewesen, aber nun stand ich vor einem riesigen, anklagenden Fragezeichen.

CloverfieldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt