1 - Ein Wunsch

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Ich hatte mich schon mein ganzes Leben lang für die Individualität der Menschen interessiert. Diese Ausstrahlung, die sie besonders wirken ließ. Ich wollte sie kennenlernen, ihre Art studieren und mir von ihnen erzählen lassen, was es heißt, stolz auf das zu sein, was man war. Dass man nun mal nicht immer so sein konnte, wie die anderen, doch sich stets daran erinnern musste, dass es nicht negativ war. Es war nicht negativ, andere Interessen zu haben, sich anders zu kleiden oder sich anders zu verhalten.

,,Alice?"

Mein Körper zuckte vor Schreck zusammen, als sich die Stimme meiner Mutter in meine Ohren quälte und einen unangenehmen Schmerz in meinem Herzen verursachte. Es war dieser Name und dessen Aussprache, die mich verrückt werden ließ, immer und immer wieder. Beinahe hätte ich ihr einen verlogenen Blick zugeworfen, jedoch bemerkte ich die Stimmen unserer Gäste und vergaß, dass ich mich an unserem Tisch befand.

,,Bitte?" ,meinte ich kurz daraufhin einwenig angespannt zu meiner Mutter, die mit ihrem Küchenmesser hin und her wedelte. ,,Die Kerzen, Liebes, du sollst die Kerzen doch auspusten!" Mein Blick fiel auf die Torte vor mir, welche mit vielen Kerzen beschmückt war. Auf ihr bildete sich eine große 15 ab. Sie starrte mich regelrecht an, rieb mir mein heranwachsendes Alter unter die Nase und ich fühlte diese große Last in mir.

Die Pubertät hätte schon vor gut einem Jahr in mein Leben treten müssen, aber sie hatte sich viel Zeit mit den Veränderungen an mir gelassen. Veränderungen, die nicht zu mir passten. Veränderungen, die ich keineswegs durchleben wollte.

,,Wünsch dir was!" ,rief mein Vater fröhlich und klopfte mir auf die Schulter. Meine Hände waren unruhig, doch meine Augen fest auf die Kerzen vor mir gerichtet, bevor ich sie für einen kurzen Augenblick schloss.

Er verging wie Minuten, in denen ich in meinem Kopf alle Schubladen durchsuchte, um nach den richtigen Worten zu suchen. Mein Traum sollte dennoch in Erfüllung gehen, selbst wenn meine Wenigkeit nicht an diesen Hokus Pokus glaubte. Ich wünschte mir, eines Tages endlich so aufwachen zu können, wie ich es gerne von Anfang an erlebt hätte. In einer Haut, in der ich mich wohlfühlte. Mit einem Geschlecht, mit dem ich mich identifizieren konnte. Mit einer tiefen Stimme, die zu mir passte und ohne dieses enttäuschende, lange, blonde Haar, welches ich verabscheute oder meinem seltsamen Namen, nein, ich wollte nur eins sein.

Und das war ein Junge.

Entschlossen bließ ich die vielen Kerzen aus und öffnete wieder meine Augen, während das laute Klatschen der Gäste ertönte. ,,Happy Birthday!"

Sie blieben noch eine Weile, bevor sie sich mit Umarmungen und Glückwünschen wieder verabschiedeten. Ich blieb allein in der Küche zurück und strich mit meinem Finger vorsichtig über die cremige Glasur der Torte, ehe sich der süße Geschmack in meinem Mund bemerkbar machte.

,,Du hättest ruhig deine Freunde einladen können, wir hätten sowieso genug Platz gehabt!" Meine Mutter stöckelte mit ihren Pumps an mir vorbei und verstaute die übrig gebliebenen Stücke im Kühlschrank. ,,Mag sein, aber mir war nicht nach feiern." ,log ich. ,,Hat denn niemand von deinen Freunden gefragt?" ,bohrte sie weiter nach. Sie steckte ihre Nase gerne in die privaten Angelegenheiten anderer, so lange, bis sie nachgaben. Etwas, dass ich glücklicherweise nicht von ihr geerbt hatte.

,,Nein." Ich besaß nicht mal Freunde, das Wort fühlte sich auf meiner Zunge vollkommen fremd und kalt an. ,,Achso, äh, okay!" Wenn sie damals gewusst hätte, was man alles in der Schule mit mir gemacht hatte, wäre sie vermutlich durchgedreht oder hätte es mir nicht geglaubt. Oft hatte ich sie angelogen, aber immer aus dem selben Grund.

Ich müsste es ihr erklären. Müsste ihr beichten, dass ich nicht die süße Art von Tochter sein wollte, die mit ihrer Mutter Röcke shoppte oder nach günstigen Kleidern ausschau hielt. Dass ich mich nicht so verhalten wollte, wie sie es sich ausmalte und es hätte ihr Herz in sekundenschnelle auseinandergerissen.

Sie starrte mich eine Weile lang prüfend an und obwohl ich wusste, dass sie meiner Aussage keinen Glauben schenkte, räumte ich die restlichen Teller weg und verschwand in meinem Zimmer, wo ich mich einfach in mein Bett legte, die Knie anzog, diese fest mit den Armen umschling und in den unruhigen Träumen verschwand.

Song: Two Weeks ~ Grizzly Bear



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