Kapitel 5

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Ich hatte mich noch eine Weile aufs Ohr gehauen, um wieder richtig zu Kräften zu kommen. Das sagte ich mir jedenfalls. Ein anderer, wesentlich entscheidenderer Grund war, dass ich so nicht mit Scar, Chokolate oder gar Hunter reden musste. Dass ich mit Scar keinen Kontakt wollte, konnte ich ja noch verstehen, doch wieso ich mich auf einmal auch vor den andern beiden sträubte, war mir schleierhaft.

Die Einheit war gerade nach der zweiten Pause zu ihrer letzten Tageseinheit gegangen. Ich war von den lauten Gesprächen aufgewacht, hatte mich aber nicht geregt. Nun war ich wieder völlig allein in dem großen Zimmer und schlüpfte vorsichtig unter der Decke hervor. Ich trug die schlichten, weißen Shorts und das T-Shirt dazu, der Schlafanzug, den ebenfalls jeder hatte. In diesem Camp war es schließlich nicht erlaubt anders zu sein.

Es war wie immer schrecklich heiß und ich steckte mir die Haare schnell im Nacken hoch und fächelte mir Luft zu. Noch etwas träge stolperte ich dann schließlich die Treppe hinab, machte eine scharfe Linkskurve und befand mich im miefigen Speisesaal. Mein Magen gab ein lautes Knurren von sich. Ich hatte einen solchen Hunger!

Eigentlich war es verboten, in den verschlossenen Küchenbereich zu gehen, doch erstens wollte ich nicht auf Cheef treffen und ihm nach etwas zu Essen zu fragen, und zweitens hatte ich so einen Appetit, dass ich glaubte, gleich ohnmächtig zu werden. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

Was soll schon passieren? Mehr als dich zu erwischen können sie eh nicht.

Nach einem weiteren Knurren ging ich mit einem misstrauischen Blick zum Eingang auf die massive Holztür zu und kniete mich vor das Schloss. Das Türschloss war schonmal aufgebrochen worden, wurde mir auf dem ersten Blick sofort klar und ich legte den Kopf ein wenig schief, während ich es weiter mit erfahrenen Blicken absuchte. Erneut schaute ich zum Eingang und atmete erleichtert auf, ihn immer noch so zu sehen, wie zuvor. Dann fasste ich mir zielstrebig in den BH und zog eine kleine Nadel hervor, die ich dort im Bügel versteckt hatte. Uns waren zwar all solche Gegenstände abgenommen worden, doch wenn man wusste, wo man sie verstecken musste, dann blieb dies meist unentdeckt.

Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, so bekannt war das, was ich gerade tat. Fast wie Alltag, inmitten dieses so ungewöhnlichen Tagesablaufs. Die Nadel führte ich unten ins Schloss ein, ruckelte einige Male vorsichtig daran und schon sprang die Tür auf und ich huschte hinein.

Innerlich gab ich mich dem Hochgefühl hin, die Trainer ausgetrickst und etwas Verbotenes gemacht zu haben. Das gab mir immer diesen Adrenalinkick, den ich, wie ich gerade feststellte, sehr vermisst hatte. Mit einem breiten Grinsen ging ich auf den Kühlschrank zu und befand mich nur wenige Sekunden später im Schlaraffenland. Frisches Obst, nicht wie dieser gammlige Apfel von heute morgen. Milch, Orangensaft und Limo reihten sich aneinander. Und was ich dann sah, ließ mir all meinen Speichel in den Mund schießen. Echte Vollmilchschokolade. Vielleicht die der billigen Sorte und fettreduziert, doch für eine Zuckersüchtige, wie ich es eigentlich bin, war dieser Fund mehr Wert als alles Geld der Welt.

Ich hatte das kleine Ding in weniger als einer Sekunde aus seiner Hülle befreit und mir dann auch schon das erste Stück in den Mund geschoben. Ich schloss die Augen, als die himmlisch süße Masse auf meiner Zunge zerlief. Irgendwie erinnerte mich dieser Geschmack immer wieder an meinen einzigen Urlaub, den ich jemals mit meiner Familie gemacht hatte. Wir waren raus aufs Land gefahren zu irgendeinem See und einer schnuckeligen, kleinen Hütte.

Wo ich hier, an der Küchentheke lehnte und die Schokolade Stück für Stück verschlang, konnte ich mir ganz genau vorstellen, wie dieser bezaubernde Ort noch einmal ausgesehen hatte. Wie er gerochen und sich angefühlt hatte. Und vor allem, wie der Schokoladenkuchen geschmeckt hatte, den Dad damals gebacken hatte. Ich konnte das Lachen von Joe so deutlich hören, dass er geradezu neben mir stehen konnte. Ich hatte Matts Gesichtsausdruck vor Augen, wie er immer den Mund verzog, wenn ihm etwas nicht passte oder er nicht seinen Willen bekam. Und natürlich erinnerte ich mich in diesem Augenblick an Logan und Cole, wie sie sich wegen jeder Kleinigkeit aufeinander gestürzt und sich raufend durchs Gras gewälzt hatten. Wie es immer leise geklimpert hatte, wenn der Wind durch Mums Haare gefahren war und sich mit ihren Ohrringen verhedderten. So schöne Erinnerungen spuckten mir in meinem Kopf herum und ich glaubte sogar zu lächeln, als mich plötzliche Worte wieder zurück in die Realität beförderten.

Bootcamp (Arbeitstitel)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt