Kapitel 20: Wenn Vergangenheit zur Gegenwart wird
»Was bedeutet riuwe?«, fragte Maria ungerührt.
»Wie weit hast du gelesen?«, fragte Aylin. Ihr Gesicht zeigte einen Ausdruck, wie Maria ihn noch nie bei ihr gesehen hatte.
»Bis riuwe. Was bedeutet das?«
»Trauer«, erwiderte Aylin.
In Trauer also, dachte Maria. Und sie fand, dass sich genau dieses Gefühl in Aylins Gesicht spiegelte.
Als Maria am letzten Ferientag zum Internat zurückkehrte, geschah etwas seltsames.
Sie packte ihre Koffer und verabschiedete sich von Ralf und Aylin. Alexander hatte bereits vor einer halben Stunde die Fahrt in das Jungeninternat angetreten, in das er ging und in dem laut ihm alles ziemlich genauso lief wie im Karia-Internat. Marias Schule und die ihres Stiefbruders waren quasi das Gegenstück der jeweils anderen.
Dann stieg Maria in ihrem Bus und starrte aus dem Fenster. Überrascht registrierte sie, dass zwei Haltestellen später Alexandra einstieg, die sie sofort ausfragte, wo sie denn gewesen war. Als sie schilderte, wie Gaia sie das erste Mal aufgespürt hatte, hielten sie auch schon an der Schule. Beide hievten ihre Koffer aus dem Bus und gingen, sich weiterhin unterhaltend, auf das Internat zu.
Maria lehnte sich an den Torpfosten und meinte: »Aber das Fest zur Wintersonnenwende mit Mejra war schön.«
Plötzlich wurde ihr schwindelig und alles drehte sich um sie. Als die Welt stehen blieb, fühlte Maria Stein unter ihrer Hand. War nicht eben noch der Torpfosten aus Metall gewesen?
»Was sagt Ihr dazu, Lionssa?«, hörte sie eine männliche Stimme. Maria erstarrte und öffnete die Augen. Vor ihr war ein riesiges Fenster, das die Sicht auf einen prächtigen Garten preisgab.
Oh mein Gott!, dachte Maria und bekreuzigte sich.
»Wir dürfen kein Erbarmen zeigen! soll wissen, wie es ist, meinen Zorn zu spüren!« Die weibliche Stimme - Lionssas - war hasserfüllt.
Langsam, vorsichtig blickte Maria hinter der Säule, hinter der sie stand, hervor.
»Schickt die Truppen noch weiter vor«, fuhr Lionssa fort. Sie war eine hochgewachsene Frau mit staubgrauen Augen, die im Moment jeden der vor ihr stehenden musterten, und dunkelbraunen Haaren, die ihr bis zur Mitte des Rückens reichten. Maria war erstaunt, nur Auren von Drachengestaltwandlern erkennen zu können.
»Sehr wohl, Lady«, erwiderte ein Mann – prächtige Uniform wie bei den mittelalterlichen Offizieren und schwarzes, grau meliertes Haar – und verbeugte sich.
»Ihr könnt gehen«, erklärte Lady Lionssa und wedelte nachlässig mit der Hand, dann fuhr sie fort: »Sonst noch jemand Vorschläge?«
Als niemand Anstalten machte, etwas zu sagen, atmete Maria tief durch und trat hinter der Säule hervor: »Ich. Da das hier offensichtlich ein Kriegsrat ist und Kriege viel zu viele Menschenleben fordern, habe ich einen: Wie wäre es, wenn Ihr, Lady Lionssa, mit Mearal Frieden schließt? Das wäre das Beste für alle Beteiligten.«
Die Lady starrte das junge Mädchen an und bellte dann: »Wachen!«
Maria zuckte zusammen, blieb aber dennoch hoch erhobenen Hauptes stehen, um sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen. Zwei breitschultrige Männer in schwerer Rüstung kamen hineingeeilt, packten sie je an einem Arm und zerrten sie vor Lionssa. Die Lady starrte ihr in die blauen Augen, zögerte kurz und fragte dann kühl: »Meine Schwester hat dich geschickt, nicht wahr?«
»Dazu müsst Ihr mir erst einmal sagen, wer Eure Schwester ist«, erwiderte Maria gespielt mutig, obwohl sie innerlich völlig aus der Fassung war und sich am liebsten losreißen wollte. Oder heulen. Oder beides.
»Du hast doch eben noch ihren Namen genannt«, wies Lionssa sie scharf zurecht.
»Also Mearal«, meinte Maria mehr zu sich selbst, »Ich habe ihren Namen nur genannt, weil ich ihn Eurem Gespräch entnehmen konnte. Ich stamme von der Erde und war nicht besonders viel von der magischen Welt. Und soweit ich mich erinnern kann, war ich hier in der Gegend noch gar nicht.«
»Lüge!«, spie Lionssa aus und funkelte ihr Gegenüber wütend an.
»N-Nein ...«, murmelte Maria verunsichert, »Das ist–«
»Hör auf, mir zu widersprechen!«, schrie Lionssa und schlug sie mit der flachen Hand ins Gesicht. Das goldblonde Mädchen wollte reflexartig an seire brennende Wange fassen, doch die Wachen hielten seine Arme zurück. Es spürte seine Beine unter ihm nachgeben.
»Abführen!«, bellte die Lady.
Unerbittlich schleiften die Wachen Maria mit und warfen sie in einen dunklen, stinkenden Kerker. Sie verfluchte ihren Sinn für Gerechtigkeit.
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Quest Of An Äreviel 1: Die Legende Der Kierline
FantasíaWenn der selbsternannte König fällt, Wird ein Stern erblüh'n in dieser Welt. Ein Flügelschlag, sanft wie der Wind, Der Stern nähert sich dem Ziel geschwind. Und in jener dunklen Nacht hat sie das Licht hervor gebracht. Eins vollbracht, warten noch v...