PoV Jeremie
Ich wusste nicht, was schlimmer war. Meine Sorge um Evan oder die Wut auf den Jäger. Egal wie stark Evan war, gegen einen Vampir seiner Klasse kam er nicht an. Vorallem nicht, wenn er seine Gabe nicht kontrollieren konnte.
Nachdem sich die kleine Gruppe von Leuten, die sich gebildet hatte, wieder auflöste ging alles ganz schnell. Niclas und Lana bereiteten das Krankenzimmer vor und vorsichtig hob ich den bewusstlosen Evan auf und trug ihn dort hin. Sanft legte ich ihn auf der Liege ab und musste dem Drang widerstehen, ihm durch die Haare zu streichen. Aber der Zeitpunkt wäre einfach nur schlecht.
Niclas tastete einige Stellen an seinem Körper ab, um nachzusehen ob Evan etwas gebrochen hatte, während Lana ihm das Blut aus dem Gesicht tupfte.
Untätig stand ich daneben und konnte meinen Blick nicht von Evans Gesicht lösen. Selbst jetzt, mit aufgeplatzter Lippe, einer blauen Nase und einem ebenfalls blauen Auge, war er wunderschön.
Und hatte diese scheiße nicht verdient. Jeder, aber nicht er.
Evan wurde in Schmerz und Hass geboren und dieser hatte sich schon sehr früh in sein Herz gefressen.
Ob ich ihn, als sein Gefährte, da herausholen konnte, war die andere Frage.
"Das könnte ein Problem werden." murmelte Niclas und tastete an Evans Hals entlang.
"Was?" fragte ich alarmiert und warf Evan einen besorgten Blick zu, während mein Herz in der Brust donnerte.
"Sein Genick. Es ist angebrochen." Lana öffnete den Mund, um etwas zu sagen schloss ihn aber wieder, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.
"Soll heißen?" knurrte ich leise und es fiel mir schwer die Kontrolle über meine Wut zu behalten. Am liebsten hätte ich diesem komischen Vampir den Kopf abgerissen.
"Das wird eine ganze Weile dauern, bis das heilt. Könnten Lähmungen zurück bleiben."
"Eine Möglichkeit gibt es!" warf Lana hektisch dazwischen, da sie wohl bemerkte, dass ich kurz vor dem explodieren war. Meine Hände verkrampften sich immer mehr.
"Das Blut eines Gefährten kann jede Wunde heilen. Selbst eine eigentlich tödliche." Während sie das sagte, sah sie mich an.
Ich könnte Evan heilen. Aber wir würden uns noch stärker aneinander binden. Er würde mich dafür hassen.
Allerdings war mir sein Hass lieber als sein Tod. Oder wenn er für immer gelähmt bleiben würde.
"Wo sollen wir bitte so schnell eine Gefährtin für ihn auftreiben? Manche Vampire leben hunderte von Jahren und finden sie nicht." Niclas klang niedergeschlagen, so als wäre ihm das passiert. Als hätte er noch niemanden gefunden.
Ich seuftzte. Eigentlich hatte ich meine Entscheidung schon getroffen.
Ich würde Evan von meinem Blut trinken lassen, ob er nun wollte oder nicht.
Mit ein paar schnellen Bewegungen krempelte ich meinen Ärmel hoch und biss mir selbst ins Handgelenk. Sofort lief Blut aus der Wunde und ich hielt mit der anderen Hand Evans Kopf hoch.
Erst wollte Evan nicht schlucken, aber als Lana ihm kurz die Nase zu hielt, hatte er keine andere Wahl.
"Ihr seid Gefährten?" fragte Niclas zögerlich nach, während Evan den ersten Schluck meines Blutes zu sich nahm.
Ein leises zischen konnte ich mir nicht verkneifen.
"Gehen wir." hörte ich Lana zu Niclas sagen. Beide verschwanden aus der Hütte.PoV Evan
Als ich erwachte, spürte ich zuerst den Schmerz. Vorallem im Hals und im Gesicht.
Aber tot konnte ich unmöglich sein. Dafür war ich zu sehr bei mir.
Das nächste was ich spürte, war wie etwas warmes in meinen Mund tröpfelte. Was auch immer es war, es schmeckte herrlich und reflexartig griff ich nach dem Ursprung.
Es fühlte sich an wie eine Hand.
Aber der Geschmack und das davon ausgehende Gefühl benebelten meine Sinne, sodass ich nicht darüber nach dachte.
Bis mir die Quelle dieses Gefühls weg genommen wurde. Missbilligend brummte ich auf und nach ein paar versuchen konnte ich die Augen sogar öffnen. Es war als hätte diese Flüssigkeit meinem Körper neue Kraft eingehaucht. Auch schmerzen spürte ich kaum noch.
"Evan?" vernahm ich Jers besorgte Stimme, allerdings klang alles wie durch Watte.
"Lass dir Zeit." hörte ich ihn sagen und er strich mir über den Kopf.
Und komischerweise hatte ich ihn nicht davon abgehalten, obwohl ich es hätte tun können. Langsam bekam ich wieder alle Sinne beisammen und setzte mich vorsichtig auf. Jeremie stützte mich leicht am Rücken.
"Geht es wieder?" Wortlos sah ich Jer an. Jetzt da ich wieder klar denken konnte, kam mir die Sache schon komisch vor.
"Was war das?" fragte ich mit kratziger Stimme. Jer wusste sofort, was ich meinte, den er wandte unsicher den Blick ab.
"Es tut mir leid." nuschelte er dann vor sich her.
"Was tut dir leid?" fragte ich bissig nach und als Antwort hob Jer seinen Arm.
War das...hatte er mir wirklich sein Blut gegeben!?
Wütend stand ich auf und wollte an Jer meine ganze Wut heraus lassen, aber leider spielte mein Körper noch nicht mit. Jer fing mich auf, bevor ich auf dem Boden aufschlagen konnte.
"Lass mich los." knurrte ich ihn an und wollte mich lösen.
Jer aber packte mich am Kinn und zwang mich ihn anzusehen.
"Ich wollte das auch nicht so. Aber wir können das jetzt nicht ändern, Evan. Akzeptiere das." Eine Weile lieferten wir uns ein stummes Blickduell.
Dabei konnte ich seinen warmen Atem in meinem Gesicht spüren. Der Ausdruck in Jers Augen wurde sanfter und der Druck an meinem Kinn ließ nach. Bildete ich mir das ein oder strich sein Daumen über meine Wange?
Trotz meiner bedenken, konnte ich den Blick nicht lösen.
Wollte er mich jetzt küssen?
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Seher - Der Fluch
VampireHalt den Kopf gesenkt. Sieh sie nicht an. Nicht starren. Einfach weiter gehen. Lass sie es nicht bemerken. Zeig keine Emotionen. Für nichts. Für niemanden. Als junger Mann sollte man eigentlich das Leben genießen, Freunde treffen, die Liebe sein...