Um halb sechs verlasse ich schließlich die Wohnung. Mit Absicht habe ich darauf verzichtet mich irgendwie hübsch zu machen. Jonathan Clark soll direkt klar sein, dass das kein Date ist. Stattdessen trage ich Jeans und Sweater. Dazu meine ausgelatschten Converse.
Pünktlich um 18Uhr stehe ich vor der Tapasbar in der 74th. Von Jonathan ist nichts zu sehen.
Da ich keine Lust habe, wie beim ersten Mal eine halbe Stunde auf ihn zu warten, schreibe ich ihm: wenn Sie nicht in fünf Minuten da sind, gehe ich wieder.
Ich habe die Nachricht gerade gesendet, als hinter mir eine Stimme sagt: „Bin schon da."
Erschrocken wirbele ich herum. „Himmel. Müssen Sie mich so erschrecken?", frage ich verärgert.
„Komm wieder runter", sagt er lachend, ohne die Höflichkeitsform, „oder beißt du sonst?"
„Ich kann mich nicht daran erinnern, Ihnen das Du angeboten zu haben", gifte ich und ignoriere die Anspielung auf unser Telefonat. Ich weiß selbst nicht genau, warum ich so gereizt bin.
Er seufzt und sieht mich abwartend ab.
„Was ist?", frage ich.
„Ich warte bis du bereit bist, dass ich dir zeige, was ich mit den Fotos mache", sagt er.
„Ich bin bereit." Ungeduldig verlagere ich das Gewicht auf das andere Bein.
„Nein, erst musst du lächeln."
„Was soll das?" Ich habe keine Lust auf dieses Theater.
„Sag mal „Cheese", macht er den typischen Fotographenspruch, zieht eine Grimasse und bringt mich damit tatsächlich zum Lachen.
„Perfekt! So ist es richtig." Er zwinkert mir zu, packt mich am Handgelenk und zieht mich die Straße runter. Die plötzliche Berührung wirft mich aus der Bahn und ich brauche ein paar Schritte bis ich wieder klar denken kann.
„Wo gehen wir hin?", frage ich.
„Siehst du gleich."
Wir laufen eine Weile durch New York. Die ganze Zeit lässt Jonathan meine Hand kein Mal los. Es ist ein beängstigendes aber auch schönes Gefühl.
Schließlich bleibt er vor einem hohen Glasgebäude stehen und hält mir die Tür auf.
Ein bisschen mulmig ist mir schon zu Mute. Normalerweise würde ich nicht mit einem Mann, den ich quasi nicht kenne, irgendwohin gehen, wo sonst niemand ist. Trotzdem trete ich durch die Tür in ein graues, nach Putzmittel riechendes Treppenhaus.
Anstatt wie erwartet den Aufzug zu nehmen, benutzen wir die Treppe.
Als wir acht Stockwerke hoch sind bleibe ich erschöpft stehen. „Wie hoch müssen wir noch?", frage ich leicht außer Atem.
Er dreht sich zu mir um. „Warum? Kannst du nicht mehr?", spottet er. Er steht einen ganzen Absatz weiter oben und grinst amüsiert zu mir runter. Hat er Spaß daran mich so zu treiben?
„Nein, ich frage mich nur warum wir nicht einfach Aufzugfahren, wenn wir so hochmüssen?!"
„Weil der kaputt ist", sagt Jonathan knapp und geht weiter die Treppen hoch.
Ich schnaube genervt, folge ihm aber. Im zwölften Stock sind wir schließlich angekommen. Er gibt den Pinn zum Öffnen der Tür ein und hält sie mir dann auf.
Wir treten in ein modern eingerichtetes Penthouse.
„Wohnst du hier?", frage ich, als wir im Eingangsbereich stehen und er seine Jacke auszieht.
„Gut erkannt, Sherlock", er hängt die Jacke an einen freien Harken und nimmt mir dann meine ab. „Möchtest du etwas trinken?"
Ich schüttle den Kopf. „Nein, danke."
Er trägt wieder ein weißes Hemd. Dieses Mal, allerdings vollständig zugeknöpft. Schade, schießt es mir durch den Kopf.
Ich folge ihm ins Wohnzimmer, das Esszimmer und Küche miteinschließt. Er umrundet die Kücheninsel, während ich mich neugierig umsehe.
Ich höre wie er sich etwas einschüttet, als ich herübersehe, erkenne ich, dass es wieder Scotch ist. Was er daran nur findet?
An der Fensterfront steht eine Sitzgarnitur aus schwarzem Leder mit einem kleinen Glastisch. An der Wand hängt ein Flachbildfernsehr, daneben eine Musikanlage.
Ein großes CD-Regal säumt die andere Hälfte der Wand. Staunend gehe ich die Titel der Alben durch und finde Musik aus jedem Genre.
Ich spüre, wie er hinter mich tritt. „Möchtest du etwas hören?", fragt er.
Ich weiß, wenn ich mich jetzt zu ihm umdrehe, werde ich ihm direkt gegenüberstehen, ich werde ihn riechen können, ich werde jedes kleinstes Merkmal seines Gesichtes sehen können. Es ist verlockend. Aber ich tue es nicht.
„Ja, hast du etwas von Charlie Puth?", frage ich. Meine Lieblingssänger wechseln ständig, aber zurzeit ist es definitiv Charlie Puth.
Jonathan tritt neben mich und zieht aus einem der oberen Reihen ein Album heraus.
„Irgendeinen Lieblingstitel?", fragt er.
„One call away!"
Er nickt, tritt an die Musikanlage und schaltet sie ein. Ich wiege mich im Takt der Musik und summe die Melodie mit.
Jonathan beobachtet mich lächelnd, stellt sein Glas auf dem Glastisch vor dem Sofa ab, nimmt meine Hand und legt die andere auf meinen Rücken und beginnt langsam mit mir zu tanzen.
Seine Berührung löst wieder ein warmes Gefühl in meiner Brust aus.
Ich lächle ihn an und obwohl es sich komisch anfühlen müsste, tut es das nicht.
„Ist das deine Masche?", frage ich leise, um den Moment nicht zu zerstören.
Er grinst. Dabei fällt mir auf, dass seine Zähne doch nicht so perfekt sind, wie auf dem Foto von ihm. Seinem linken oberen Schneidezahn fehlt eine Ecke. Wie das wohl passiert ist?
„Nein. Normalerweise nehme ich Frauen nicht mit in meine Wohnung."
„Das meinte ich nicht. Sondern du spielst ihren Lieblingssong, tanzt ein bisschen mit ihr und nimmst sie anschließend mit ins Bett?"
„Möchtest du denn mit mir ins Bett?", fragt er anzüglich und der Druck auf meinem Rücken nimmt leicht zu.
„Ich bin vergeben."
„Du verhältst dich aber nicht so."
Ich bleibe stehen, aber Jonathan lässt es nicht zu. Er zieht mich bestimmt weiter und ich gebe nach. Es ist viel zu schön, ihm so nah zu sein. Ich mache den Fehler und sehe zu ihm hoch. Seine braunen Augen ruhen auf mir und ich kann kleine goldene Sprenkel in ihnen erkennen. Seine Augen sind unglaublich weich, im Gegensatz zu seinem markanten, männlichen Gesicht. „Jonathan..."
„Jace", verbessert er mich, „ich mag es nicht, wenn mich jemand Jonathan nennt."
Er zieht mich näher an sich ran, bis sich unsere Oberkörper berühren. Ich atme scharf ein. Das ist nicht gut, aber ich bringe es nicht fertig, wieder Raum zwischen uns zu bringen. Er macht mich schwach. Jetzt kann ich ihn doch riechen. Er riecht nach seinem Aftershave und nach noch etwas Anderem, das ich nicht identifizieren kann, mir aber weiche Knie beschert.
„Dein Bruder nennt dich so", erinnere ich ihn.
„Matt, ja. Matt hört auch nicht auf mich, wenn ich ihm sage, er soll es lassen", es klingt verbittert. Ich frage nicht weiter nach, weil ich das Gefühl habe, dass es mich nichts angeht, obwohl ich vor Neugier innerlich brenne.
Als das Lied endet bleiben wie stehen.
„Zeigst du mir jetzt was du mit den Bildern machst?", frage ich, noch immer stehen wir dicht beieinander.
„Komm mit!"
Er lässt meine Hand nicht los und mir fällt auf, was für lange Finger er hat. Im Vergleich zu meiner wirkt seine Hand riesig. Gut, ich habe auch echt kleine Hände.
Er ist generell groß. Mindestens einen Kopf größer als ich.
Die Tür, die er aufstößt, ist nur angelehnt. Wir treten in einen, im Vergleich zu den anderen Räumen, eher kleine Raum, dessen Wände allerdings über und über mit Bildern bedeckt sind. Alles ist voll mit Fotos. Sie kleben an den Wänden, hängen von der Decke und liegen sogar auf dem Boden.
Sie zeigen alle Gesichter, aber ganz verschiedene. Männer, Frauen, Europäer, Afrikaner, Asiaten, Amerikaner, Kinder, Erwachsene, Gesunde, Kranke, Behinderte,...,Menschen.
Für einen Moment bin ich sprachlos. „Wow, das ist der Wahnsinn", gestehe ich und mache einen vorsichtigen Schritt in den Raum.
Die Bilder, die vielen Eindrücke, überfluten mich, tragen mich fort in eine andere Welt.
„Gefällt es dir?", fragt Jace leise hinter mir.
Ich kann nur nicken.
Meine Gedanken fahren Karussell.
„Jedes Gesicht ist auf seine eigene Art und Weise schön", erklärt er leise, „man muss sie nur intensiv genug betrachten, um es erkennen zu können. Schau dir diese Frau an." Er deutet auf eine afrikanische Frau, mit einer Narbe auf der einen Wangen und verschrumpelter Haut. „Sieh dir ihre Augen an. Versuch hinter das zu gucken, was die Welt mir ihrer Haut gemacht hat, schau dir den Menschen an!" Ich sehe überrascht zu Jace, als ich seine leidenschaftlichen Worte höre.
Und auf einmal ist es ganz klar. Natürlich ist diese Frau schön. Sie ist schön, wegen dem Strahlen ihrer Augen, wegen dem was diese Augen erzählen und auch während ich Jace ansehe, sehe ich das auch er schön ist. Nicht nur äußerlich, sondern auch hinter den schönen Augen und den markanten Gesichtszügen. Ich möchte wissen, wie es hinter seiner äußeren Fassade aussieht. Ich möchte ihn richtig kennenlernen.
„Du hast Recht", ich drehe mich wieder zu dem Foto um, „sie ist wunderschön."
„Oder dieser kleine Jungen", er zeigt mir ein weiteres Bild. Ich fange an zu verstehen, was jeden von diesen Menschen so unglaublich schön macht. Es fällt mir schwer es in Worte zu fassen, weil die Bilder es einfach am besten ausdrücken, aber ich glaube es ist ihre Einzigartigkeit.
Es ist mehr als eine Stunde vergangen, als wir den Raum wieder verlassen. Ich bin noch immer überwältigt. Zu jedem Bild, zu jeder Person hat Jace eine Geschichte.
„Lässt du mich jetzt ein Foto von dir machen?", fragt er hoffnungsvoll, als er die Tür hinter uns schließt.
„Nein." Ich schüttle meinen Kopf.
„Warum denn nicht? Du weißt doch jetzt, was ich damit mache. Ich habe sie nur für mich."
Ich weiß selbst nicht genau, warum ich nicht möchte, dass er ein Foto von mir macht. Vielleicht, weil ich befürchte, dass er mich zu diesen vielen anderen in den Raum hängt und mich dann links liegen lässt.
„Ich möchte es einfach nicht, klar."
Es bildet sich derselbe harte Zug um seinen Mund, wie gegenüber seinem ältesten Bruder.
Keiner von den Clarkgeschwistern scheint es zu mögen, wenn man nicht nach ihrer Pfeife tanzt. Aber bei Jace scheint noch etwas anderes dahinter zu stecken. Er scheint innerlich mit sich zu kämpfen. Was ist los mit ihm?
„Ich muss jetzt nach Hause. Mein Freund wartet auf mich", lüge ich.
„Ja, ich denke es ist besser, wenn du jetzt gehst", seine Direktheit überrascht mich. Ich frage mich, warum er wegen diesem einfachen Nein, so sauer ist.
Ich laufe die vielen Stockwerke runter auf die Straße und rufe dann Adam auf dem Handy an. Er geht nicht dran. Na super.Ich nehme wieder ein Taxi nach Hause.
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Sophia
ChickLitNew York Für manche ist die Stadt das Sprungbrett zum Erfolg, für andere ein Albtraum. Nur mit einem gutbezahlten Job oder einem großen Erbe kann man sich hier eine Wohnung leisten. Sophia will sich endlich von den finanziellen Fesseln ihrer Eltern...