Kapitel 3 - Die Spielregeln

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Amelie

Ich renne.

Seit Minuten renne ich über das Kopfsteinpflaster, lasse die Häuser an mir vorbeiziehen und bin blind gegenüber meiner Umgebung. Das Keuchen meines Atems dröhnt in meinen Ohren, alles verschwimmt vor meinen Augen und doch kann ich einfach nicht anhalten.


Warum musste dieser Junge sterben?


Seitdem ich seinen leblosen Blick sah, der voller Ironie immer noch in den Himmel hinauf starrt, kehrt diese Frage immer und immer wieder in meine Gedanken zurück.


Was hat er falsch gemacht? Was hat er dort oben im Himmel nur entdeckt, dass ihn so in Panik versetzen konnte? Und warum haben sie ihn sterben lassen, wenn Search doch die Stärksten von uns aussieben soll? Warum?!


Völlig außer Atem verlangsame ich meine Schritte, taumle schon fast gegen die nächste Hauswand und lasse mich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden sinken. Punkte tanzen vor meinen Augen und alles dreht sich, doch der Schwindel hat wenig mit meinem Kreislauf zu tun. Vielmehr kehren die letzten Minuten zerstückelt und durcheinander in meinen Kopf zurück, laufen immer wieder von vorne ab, so als hätte man einen Film gedreht und die einzelnen Szenen willkürlich zwischen meine Gedanken gestreut.


Den Kopf in die Hände gestützt versuche ich mich zu beruhigen. Ich konzentriere mich auf meine Atmung, spüre wie mein Herz wild gegen meine Brust schlägt und sich dabei langsam wieder einem normalen Rhythmus anpasst. Fast bildlich stelle ich mir vor, wie es sich zusammenzieht, das Blut in meine Arterien presst und sich kurz darauf wieder weitet.


Es vergehen einige Minuten, ehe ich die Augen öffne, gegen das Licht anblinzle und mich schließlich vom Boden hochdrücke. Die Fragen wandern noch immer durch meinen Kopf, doch mittlerweile ist die altbekannte Klarheit wieder in meine Gedanken zurückgekehrt. Struktur, Ordnung, Logik – das sind die Dinge, mit denen ich klar komme, mit denen ich zur Ruhe finde. Alles seiner Reihe nach.


Zuerst einmal war es eine dumme Idee, wie von der Tarantel gestochen durch die Gasse zu rennen, Lärm zu verursachen, den man vermutlich noch Kilometer weit hören konnte, und mich bei all dem völlig von meinen Gefühlen überfluten zu lassen.


Das Bild des Jungen kehrt erneut vor mein inneres Auge zurück, doch ich vertreibe es entschlossen und laufe zum Hintereingang des nächsten Hauses. Ich muss von der Straße runter, denn wer weiß, wann der nächste Spieler hier auftaucht.


Mit einem leisen Quietschen schwingt die Tür nach innen auf und ich betrete die Stille des Hauses. Als ich auf den Flur trete wird mir schnell klar, dass die Räume exakt dieselbe Struktur haben, das Haus genau das gleiche ist wie jenes, in dem ich aufgewacht bin.


Die Vorstellung, dass sich duzende dieser Häuser aneinander reihen, dass jedes Gebäude genauso kahl, leer und verlassen ist wie dieses, treibt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Eine Geisterstadt wie es unpersönlicher nicht möglich ist.


So leise wie möglich gehe ich Raum für Raum ab. Jedes Mal, wenn ich erneut um eine Ecke sehe, setzt mein Herz einen Schlag aus, aus Angst, ich könnte direkt in einen anderen Spieler hineinlaufen. Erst als ich auch im oberen Stockwerk beim letzten Raum angelangt bin, atme ich erleichtert aus. Entweder ist hier nie jemand aufgewacht, oder derjenige hat das Haus bereits verlassen, so wie ich.

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