04 - überarbeitet

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Zwischen Narvik und mir war eine Spannung entstanden, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Er hielt noch immer meinen Oberarm umfasst und sah sich beim Gehen hektisch um. Jedes Mal, wenn er Stimmen hörte, blieb er so plötzlich stehen, dass ich in ihn hinein stolperte.

„Was ist in dich gefahren?" Ich passte mich automatisch seinem seltsamen Verhalten an und flüsterte.

„Pssst", zischte er zurück. Wir waren nicht weit gekommen, als mir der Geduldsfaden riss. Ich blieb stehen und mit einem kräftigen Ruck befreite ich mich aus seinem Griff.

„Es reicht!" Er erschrak über meine Gegenwehr. Wahrscheinlich hatte er nicht einmal darüber nachgedacht, wie er sich gerade verhielt.

Hinter uns kam jemand den Flur entlang. Narvik ergriff mich geistesgegenwärtig und zog mich hinter eine schrecklich hässliche Statue. Sein breiter Körper verdeckte mich fast vollständig. Ich hatte mir von ihm dieses Gefühl erhofft, dass wir in dem verbotenen Flur gehabt hatten. Ich wollte mit ihm lachen, noch mehr Unsinn anstellen – kurz gesagt, alle Regeln dieses Ortes brechen. Aber das hier war anders. Was hatte sich plötzlich geändert? War es wegen der Sache mit Ismael? War ihm klar geworden, dass ich eine Bedrohung war?

„Sie ist nichtmal zum Rundgang erschienen. War ja klar, dass eine aus der Gosse keinen Benimm hat." Das klingende Kichern zweier Mädchen.
„Der arme Isi gibt sich die größte Mühe mit ihr, aber ein Untermensch bleibt nunmal ein Untermensch." Die Mädchen kamen an uns vorbei und Narvik presste sich noch ein wenig stärker gegen mich. Etwas sagte mir, dass er das nicht nur aus Selbstschutz tat. Er musste spüren, wie ich vor Zorn angefangen hatte zu Zittern.

Mein ganzer Körper bebte unter dem Wunsch, diesen arroganten Hexen weh zu tun. Die seltsame Stimmung zwischen Narvik und mir hatte den entscheidenden Funken gegeben um die Wut in mir wieder zu entzünden - und dieses Feuer im Zaum zu halten war wahrlich keine leichte Aufgabe.
„Wahrscheinlich wird sie auch noch so dreist sein, sich auf Prinz Armand zu stürzen." Gehässiges Lachen. „Dabei wird nicht einmal Prinz Narvik ihr Aufmerksamkeit schenken."

Das Zittern erstarb augenblicklich. Prinz Narvik? Der Mann, der mich an die Wand drückte, legte in weiser Voraussicht eine Hand auf meinen Mund. Ich konnte ihn nur ungläubig ansehen. Ein schrilles Pfeifen in meinen Ohren übertönte jedes Geräusch von außen. Meine Hände und Füße kribbelten, als wären sie schlecht durchblutet.

„Ich bin Narvik"
„Das ist ein schöner Name."
„Ihr kennt ihn nicht?"
Er hatte gelacht. „Ihr habt wirklich keine Ahnung."

Das Pfeifen wurde schriller und ich musste mich zwingen langsam und ruhig zu atmen.

„Prinz Narvik", stellte ich schließlich fest, seine Hand noch immer auf meinen Lippen. Jede andere Reaktion hätte mich explodieren lassen. Ich wäre fortgerannt und hätte mich nicht mehr umgesehen. Doch Narvik machte keine entschuldigende Geste, oder lachte darüber, als wäre es ein Witz. Er sah aus, als würde er in diesem Moment zerbrechen.

Purer Schmerz stand auf seinem Gesicht; tiefe Furchen in den schönen, sonst so sorglosen Zügen. Langsam schloss ich meine Finger um seine Hand und nahm sie von meinem Mund. Ich behielt seine Hand in meiner. Aus irgendeinem Grund konnte ich es nicht ertragen, ihn so zu sehen. Ich ruckte mit dem Kopf um ihm zu signalisieren, dass er weitergehen sollte.

Immer wieder erhöhte ich den Druck, den ich auf seine Hand ausübte. Es fühlte sich an, als würde er mich jeden Moment entgleiten, nicht nur seine Hand, sondern der Junge, der so frech grinsen konnte. Der Junge, der mir einen Moment der Ruhe und Entspannung versprochen hatte.

Wir betraten irgendein Zimmer und sofort verschwand seine Hand aus meiner. Es war dunkel und er machte keine Anstalten, das große Deckenlicht einzuschalten. Stattdessen entzündete er einige Kerzenhalter an den Wänden. Es war ein Arbeitszimmer. Die Zeit verging schleppend und zog sich zäh durch meine Gedanken. So viele Fragen hatten eben noch auf meiner Zunge gebrannt, doch jetzt war mein Kopf einfach nur leer.

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