66 -überarbeitet

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Zu meinem Erstaunen schmiss mich niemand hinaus. Im Gegenteil. Plötzlich beachteten mich Leute, die mich nie zuvor beachtet hatten, was nicht immer positiv war, denn manche glotzen mich mit unverhohlener Missachtung an, während andere mir wohlwollend zunickten. Ich verbrachte drei Tage in diesem Zwischenzustand, bis mir jemand eine Nachricht in die Hand drückte.
Wir sind soweit. Öffne das Tor – Nour
Und ich ließ das Tor öffnen. Ismael hatte mir noch am Abend meiner Ansprache gestanden, dass er Nour und ihre Leute informiert hatte und diese sofort einen großen Aufmarsch in die Wege geleitet hatten. Alles was für mich zu tun blieb, war dem Volk entgegentreten, wie ich es versprochen hatte.

Ich trat auf den Balkon, der zur Vorderseite des Geländes hinaus lag. Niemals zuvor hatte ich eine solche Menschenmasse gesehen. Die Schlacht gegen den König war ein Witz gegen die Massen, die nun eintrafen. Binnen Minuten war nichts mehr von dem Garten zu sehen, alles was ich von dem Balkon aus sehen konnte, waren Menschen und Banner. Nour ganz Vorne weg und hinter ihr Unai. Sie hielten gigantische Fahnen mit dem Zeichen der Aufständischen bedruckt. Ich schluckte schwer bei dem Gedanken, dass ich nun den entscheidenden Unterschied ausmachen würde, ob diese Menschen das komplette Schloss niederrissen oder ob wir einen friedlichen Weg finden würden.
Javier, so hatte man mir berichtet, hatte sich seit Tagen nicht mehr aus seinem Zimmer hinaus bewegt. Vielleicht, so hoffte ich, würde er sich einfach seinem Schicksal ergeben?
Der Wind hatte aufgefrischt und blähte die mächtigen Banner zu ihrer vollen Größe auf. Ich musste mit einer Hand die Krone, die Ismael mir aufgezwungen hatte, festhalten, als ich schließlich zur Brüstung trat. Augenblicklich schwieg die ganze Menge.
„Willkommen", begann ich zittrig, aber der Wind trug meine Stimme trotz der Lautsprecher davon. Ich räusperte mich. „Willkommen." Meine Stimme war fester, lauter. Das war es, was ich sein musste. Fest und unumstößlich in dem, für was ich stand. „Ich danke euch, für euer kommen." Die Menge war unruhig wie ich. Niemand da unten konnte stillstehen, außer Nour und Unai. Der Rest wippte und wackelte und sah aus wie ein unruhiges, stürmisches Meer. „Ihr seid hier, um mir eine Frage zu beantworten." Wieder schluckte ich. Es war die eine Frage, die ich nun stellen musste. „Wollt ihr diese Monarchie?"
Und das Meer antwortete mir mit einer geballten Stimme. „Nein!"
Erleichtert atmete ich aus. Langsam zog ich die Krone von meinem Kopf. „So sei es." Die Masse wollte in Jubelschreie ausbrechen, als ich hinter mir den schmerzverzerrten Schrei hörte.
„NEIN!" Javier hatte sich seinen Weg zu mir gebahnt und kam auf mich zu. Mit hocherhobenen Händen packte er mich am Hals. Seine wilden Augen brannten sich in mich hinein. „Du wirst mir nicht meinen Titel nehmen!" Seine Hände waren wie Schraubstöcke und ich bekam augenblicklich keine Luft mehr. Die Wucht, mit der er auf mich getroffen war, hatte mich zurückstolpern lassen und nun hingen wir über die Brüstung. Die Krone glitt aus meinen Fingern und fiel in die Tiefe. Mit einem leisen Klirren brach sie in tausend Stücke. Wenn Javier mich nicht erwürgen würde, konnte er mich immer noch in den Tod stürzen. Panisch grub ich meine Fingernägel in seine Arme, versuchte irgendwie an Halt zu gewinnen, aber es gelang mir nicht. Mein Sichtfeld begann zu verschwimmen und ich wusste, dass ich nur noch genug Sauerstoff in meinen Lungen für einen letzten verzweifelten Versuch hatte. Ich hörte auf mich zu wehren und gab stattdessen nach. Lehnte mich zurück, weiter dem Abgrund entgegen. Wie erwartet hielt Javier inne und gab mir damit die eine Lücke, die ich brauchte, um das Gewicht zu verlagern. Ich warf mich auf die Seite, riss ihn mit mir und endlich lösten sich seine Hände von meinem Hals. Genau genommen lösten sie sich nicht nur, sie entglitten und ich verstand gerade noch rechtzeitig, dass Javier über die Brüstung stürzte. Ich griff nach seinem Arm und erwischte ihn nur noch um Haaresbreite. Ich musste mich mit meinem ganzen Gewicht dagegen stemmen, um nicht selber den Halt zu verlieren.
„Lass es zu!", schrie Javier. „Lass los!" Aber ich schüttelte den Kopf. Ich würde ihn nicht hier vor all diesen Menschen in den Tod stürzen lassen. Ich stemmte meine Füße einen nach dem anderen gegen den harten Stein des Geländers.
„In diesem Land wird niemand mehr zurückgelassen", keuchte ich und stieß einen schrillen Schrei aus, als ich alle meine Kräfte mobilisierte und Javier über die Brüstung zurück auf den Balkon riss. „Niemand wird mehr zurückgelassen."

Ich konnte nicht genau sagen, was dann passierte, aber das nächste, was ich fühlte, waren Unais starke Hände, die mich zurück auf die Füße holten. Erlöst ließ ich mich gegen seine Brust fallen. Es war vollbracht. Einen langen Atemzug lang, gab ich mich diesem Gefühl hin. Freiheit. So roch sie also. Dann ging ich um Unai herum.
Intuitiv hatte ich gewusst, wo Javier war. Sie hatten ihn in dem Zimmer hinter uns unter Bewachung gestellt. Als er mich sah, hätte sein Blick mich versteinern können.
„Du hättest mich sterben lassen sollen! Was soll ich denn nun tun?" Ich nahm seine Hand und legte ihm meinen Ehering hinein.
„Der sollte sich verkaufen lassen. Such dir ein Haus, such dir eine Arbeit. Lebe, wie es jeder andere auch tut."
Nour zog mich von Javier weg, bevor wir ein weiteres Wort wechseln konnten. Unai und Raja warteten schon auf uns. Die ehemalige Zofe kam auf uns zu und schloss mich in die Arme.
„Du hast es tatsächlich geschafft. Du hast die Revolution bis ins Schloss gebracht." Ich nickte müde.
„Aber die neue Regierung muss jetzt erstmal gebildet werden", begann Unai und sah mich erwartungsvoll an. „Die Leute brauchen trotzdem jemanden, der voran geht", fügte er hinzu, als ich nicht reagierte.
Ich hob den Kopf und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Du wirst dich hervorragend machen, als Vater der Nation." Ich drehte ihnen den Rücken zu und ging. Meine Aufgabe war erfüllt.
Ich fummelte das Mikrofon von meinem Kleid und kletterte auf dem Weg aus meinem Unterrock. Die Schuhe hatte ich schon auf dem Balkon verloren.
Ich war frei.
Letztenendes.

Ismael wartete bereits auf mich. „Bist du bereit?" Er half mir aus dem Rest des Kleides, in weitaus bequemere Reisekleidung. Ich nickte. Meine Aufgabe war erfüllt.
Wir bahnten uns unseren Weg zu den Gärten, vorbei an jubelnden Menschen und verwirrten Wachen. Vor der Tür erwartete mich ein Wagen und ich stieg ohne Fragen ein. Ismael blieb vor meinem Fenster stehen und ich setzte mich nur mit dem Fahrer bei mir in Bewegung. Hinaus aus dem Lärm, hinaus aus diesem Umsturz. Meine Aufgabe war endgültig erfüllt.

RevolutionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt