28 - überarbeitet

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Ich musste etwas Zeit für mich haben und so ließ ich Raja und Nour ohne ein weiteres Wort zurück und trat hinaus in die Kälte. Der Abend hatte ein Ende gefunden und kaum noch jemand schlich zwischen den Zelten entlang. Zielstrebig fand ich den Weg zurück zum großen Feuer. Unai war einer der Letzten, die sich noch im roten Schein wärmten. Er hatte sich zu mir umgedreht und nickte einladend zu dem freien Platz neben sich.
„Du hältst tapfer durch." Sarkastisch zuckte ich mit den Mundwinkeln.
„Ich würde lieber schlafen gehen." Sein Lächeln war milde und mitfühlend.
„Nur noch ein wenig, ja? Ich will sicherstellen, dass du nicht doch noch einfach im Schlaf stirbst." Ich bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen und sog zischend die Luft ein.
„So schnell sterbe ich nicht." Unai gluckste.
„Ich weiß." Für einen Moment verharrten wir so. Das Knistern des Feuers, das Rascheln der vorbeihuschenden Leute und mein zischender Atem zwischen meinen Händen hindurch. „Das war ein harter Tag für dich." Unai lehnte sich vor und stützte sich auf seinen Oberschenkeln ab. Eine Geste, die ich nur kurz zuvor bei Nour beobachtet hatte. Testete er mich etwa auch? Ich blinzelte zwischen meinen Fingern hindurch, entschied mich aber dafür, nur meine Handballen von meinem Mund zu nehmen, der Rest meines Gesichtes verharrte verborgen hinter meinen Fingern.
„Nicht der Erste." Unai stieß mich mit der Seite an.
„Spiel nicht die Harte." Nun senkte ich die Hände doch.
„Was erwartest du? Das ich weine und zusammenbreche?" Müde zuckte ich die Schultern. „Ja, vielleicht wäre das die normale Reaktion, aber ich habe einfach keine Tränen mehr über. Ich habe so viel geweint; über so unwichtige Dinge!" Ich konnte nur seufzen. All meine Energie war eben in diesem Zelt drauf gegangen.
„Worüber willst du zuerst reden?" Unai lehnte noch immer vorgebeugt in meine Richtung.
„Gar nicht, Dad", scherzte ich, sah aber sofort, dass ich einen Nerv getroffen hatte. Er lehnte sich zurück, ließ die Hände für einen Moment in den Schoß sinken. Dann lächelte er wieder sein warmes Lächeln.
„Würde meine Tochter noch leben, ich würde mir wünschen, dass sie so stark wäre, wie du es bist." Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Ich hatte nicht erwartet, dass irgendjemand hier mir derartig Vertrauen entgegen bringen würde. Ja, ich hatte ihnen meine Geschichten erzählt, aber doch nur, weil ich die Fremde für sie war. Obwohl Unai mir angeboten hatte, zu reden, sah man es ihm doch deutlich an, dass eigentlich er derjenige war, der reden musste.
„Wie heißt sie?" Ich hatte absichtlich nicht in der Vergangenheit von ihr gesprochen. Egal wie lange ein Verlust zurücklag, für den Leidenden war der Tote immer irgendwie präsent, dass wusste ich aus eigener Erfahrung.
„Wir wollten sie Luna nennen." Immer wieder verschränkte er die Finger, knetete dann doch wieder unruhig die Hände und verschränkte erneut die Finger. Schließlich lehnte er sich wieder zurück und schob seine Hände in die Taschen. „Ich war nicht immer ein Rebell, Ellie." Ich zog meine Decke enger um mich. Es wurde rasch kälter, doch wenn ich mit einer Gehirnerschütterung eh nicht schlafen durfte, wollte ich mir doch Unais Geschichte mit Aufmerksamkeit anhören.

„Ich bin aus einer nicht ganz armen Familie und habe so nie die Schattenseiten unserer Monarchie kennengerlernt. Entsprechend hatte ich auch nie ein Problem mit ihr. Ich wollte Arzt werden und das Geld meiner Eltern ermöglichte es mir. Noch bevor ich Studium und Lehre abgeschlossen hatte, fand ich eine wunderbare Frau, Nadja, mit der ich mir schnell eine Familie vorstellen konnte. So lange ich noch kein richtiger Mediziner war, hatten wir nicht viel Geld und Nadja arbeitete in einer Fabrik im Ort. Es waren gute Zeiten." Lächelnd senkte er den Blick. Instinktiv rückte ich näher und ergriff seine Hand. Je schöner die Erinnerung, desto größer der Schmerz. Ich traf mit meiner Vermutung ins Schwarze, denn er ließ meine Hand nicht nur zu, er ergriff sie noch fester, als suche er Halt. „Als klar wurde, dass Nadja schwanger war, bat ich sie, kürzer zu treten und keine ganzen Schichten in der Fabrik mehr anzunehmen. Sie willigte ein, ging aber trotzdem noch oft hin. Wir wollten Luna das bestmögliche Leben bieten." Er lachte tonlos und ich fühlte mein eigenes Herz brechen. „Der Tag der Geburt rückte immer näher, ich habe Nadja mit jedem Tag mehr geliebt." Wieder unterbrach er sich, doch ich wusste, dass meine Geduld die größte Hilfe für ihn sein würde, also hielt ich dem Druck seiner Hand stand, auch wenn meine Finger langsam schmerzten. „Der König hatte ein Fest in unserer Nähe angekündigt. Ich wollte Nadja an diesem Tag dorthin ausführen. Wir wollten fremdartige Süßigkeiten essen und Gauklern und Musikern zusehen. Es sollte der beste Tag unseres Lebens werden." Er schluckte und ich wollte meine eigenen Tränen nicht länger zurückhalten. So lange er nicht aufsah, würde er sie sowieso nicht mitbekommen. „Ich war an diesem Tag mit meinem Mentor in den umliegenden Dörfern gewesen und konnte es kaum erwarten, zurück zu kommen." Er machte eine Pause. „Schon von weitem konnte ich den Rauch sehen." Wieder schluckte er. Die Pausen, die er machte wurden länger und meine Tränen brannten eiskalte Pfade auf meine Wangen. „Der König hatte keine Lust gehabt, seine eigenen Männer mitzubringen, also waren alle Wachleute und Patrouillen aus unserer Stadt gerufen worden. Niemand war mehr da gewesen, der den Brand hätte rechtzeitig bemerken können. Niemand war da, der die hilflosen Löschversuche von uns hätte koordinieren können." Er atmete lange und tief ein. Endlich sah er auf und mein von Tränen getränktes Gesicht riss ihn aus seinen Gedanken. Er griff meine Hand jetzt kontrollierter und zog mich an sich. „Diese Dinge sind lange her, Ellie. Bitte weine nicht an meiner Stelle." Schlaff rutschte ich zurück auf meinen Platz und wischte mir mit einem Ärmel beschämt das Gesicht ab.
„Vielleicht war der Tag doch zu lang", murmelte ich leise und kaum verständlich. Unai rieb mit seiner riesigen, warmen Hand noch eine Weile über meinen Rücken – bis ich mich endlich beruhigt hatte.
„Ich denke, es ist in Ordnung, wenn du so langsam schlafen gehst." Er zog mich mit sich auf die Beine. „Komm, ich zeig dir deinen Platz." Wortlos folgte ich ihm. Ich hatte wirklich viel geweint in den letzten Tagen, aber Unais Geschichte waren die ersten Tränen, die ich nicht bereute. Nadja war gestorben, weil der König Lust auf ein Fest gehabt hatte, aber kein Interesse an den Unannehmlichkeiten gehabt hatte. Nadja hatte Luna mitgenommen, bevor diese überhaupt das Licht dieser Welt gesehen hatte.

Unai führte mich zu einem kleinen, robust aussehenden Zelt.
„Es ist wärmer, als es aussieht", scherzte er über meinen zweifelnden Blick. Er hielt mir noch den Vorhang auf, der wohl meine quietschende Tür ersetzte. „Vielleicht hat das Schicksal dir eine zweite Chance gegeben. Verspiel sie nicht aus falschem Stolz", flüsterte er mir noch zu, gerade als ich an ihm vorbei ging, dann verließ er mich.

Das Bett war weich und warm – eigentlich war es das nicht, im Vergleich zu dem aus dem Schloss, aber es fühlte sich tausend Mal besser an. Es roch ein bisschen muffig, die oberste Decke war ein wenig kratzig und wenn ich mich zu weit drehte, hatte ich Zeltplane im Gesicht, doch für mich war es der Himmel auf Erden. Ich legte mich mit dem Gesicht ins Kissen und sog gierig den heimischen Geruch ein.
Verspiel sie nicht aus falschem Stolz.
Unais Worte durchstachen meinen Moment des Friedens.
Noch vor einem Jahr hätte ich alles für diese Chance gegeben, Azrael noch einmal sehen, seine Stimme hören, seine Haut auf meiner fühlen, doch jetzt?
Ich hatte mich für eine große Rebellin gehalten, für ein Kind des Widerstands. Und doch lag ich hier in einem Camp, wo sogar die jüngsten mehr Ahnung von den Konsequenzen hatten, als ich. War es wirklich falscher Stolz, wenn ich mir das hier plötzlich mehr wünschte, als ein Leben mit diesem Mann?

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