16 - überarbeitet

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Die Tage verliefen ruhig. Obwohl ich Lena und Rosalie hart trainierte, ließen sich beide nichts von dem Muskelkater anmerken, den sie haben mussten. Je länger nichts geschah, desto lächerlicher kam ich mir vor und die sinnlosen Gedanken, die man sich so machte, wenn man nichts Besseres zu tun hatte, befeuerten meine Paranoia nur weiter. War es wirklich nur ein Test? Reagierte ich völlig überzogen?

Die Kopfschmerzen, die mich seit dem Mittagessen plagten waren schlimmer geworden. Lena und Rosalie unterhielten sich angeregt über etwas, aber ich hatte nicht die Muße ihnen zuzuhören. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich Anna.

Sie hatte ihren eigenen kleinen Hofstaat um sich geschart. Mädchen, die alle wussten, dass sie keine Chance bei Prinz Armand hatten, aber in Annas Glanz würde man ihnen vielleicht etwas Aufmerksamkeit schenken. Schließlich würden bei dem nahenden Herbstfest auch Herren und Damen aus den besten Kreisen anwesend sein. Sie alle wollten dort Kontakte knüpfen.

Ich hingegen konnte nur an die Sicherheitslücken denken, die eine solche Feierlichkeit barg. Neues, fremdes Personal. Reiche Lordschaften, die scharf darauf waren, die Monarchie zu stürzen, nur um selber eine Möglichkeit zu finden, an die Macht zu kommen. Meine schlechte Laune ließ sich nicht verbergen, aber ich wollte auch nicht darüber reden. Mürrisch drehte ich mich von meinen Freunden weg.

Meinen Blick von der Menge abgewandt, hatte ich aus dem Fenster in den angrenzenden Garten gesehen. Dort, in den hüfthohen Gebüschen sah ich den Schatten. Ein Mann, nein Männer und glänzendes Silber. Ein Gewehrlauf. Eine Royalistin würde jetzt die Königin schützen. Armand hatte diese Worte nie zu mir gesagt, aber es war seine Stimme, die ich in meinem Kopf hörte, seine Stimme, die mich nur einen Bruchteil einer Sekunde zögern ließ.

„Nein!", hauchte ich atemlos, schon aufgestanden, bevor ich die Entscheidung bewusst fassen konnte. „Alle runter!", brüllte ich und stemmte mich an den Wachen der Königin vorbei.

Glas zerbrach, Holz splitterte, Blut floss. Das Chaos war perfekt. Es war mir im letzten Moment gelungen, den Thron der Königin – ein Replikat aus Holz - umzustoßen. Die Kugel hatte mich stattdessen gestreift und ich spürte die Wunde, die ich mir bei meinem Zusammenstoß mit Armand zugezogen hatte, wieder aufreißen.

Die Mädchen kreischten, manche Wachen waren sofort in Alarmbereitschaft, andere waren überfordert. Sie dachten für einen Moment, dass ich die Königin angegriffen hatte, richteten ihre Waffen auf mich, bis der nächste Schuss fiel – und sein Ziel traf. Ein Mädchen fiel. Das Loch direkt zwischen ihren Augen. Ich riss mich von den Wachen los.
„Beschützt die Königin!" Einer der Männer war verdutzt genug, um sich sein Gewehr von mir abnehmen zu lassen. Irgendwo entdeckte ich Rosalie und Lena. Sie hatten sich an mein Training erinnert, versteckten sich unter den Tischen und zogen jedes Mädchen, das sie erreichten mit in ihr Versteck.

Einatmen.
Die Welt wurde langsamer. Das hier war nichts anderes als mein Training. Routine, auf die ich mich jahrelang vorbereitet hatte, erinnerte ich mich krampfhaft selbst.
Ich legte das Gewehr an und lud durch. Niemand stoppte mich. Es waren mindestens zwei Schützen, ich erinnerte mich an die Schatten.

„Verriegelt die Fenster, bringt alle hier weg!" Ich hatte einen Mann am Kragen gepackt. Panisch nickte er. Ich nahm auch ihm sein Gewehr ab. Er sah nicht aus, als wäre er bereit, in eine Schießerei verwickelt zu werden und im Nahkampf wäre er mit anderen Waffen besser bedient. „Ich halte die Stellung." Es war kein Angebot. Es war ein Befehl und man folgte mir. Die Beine hüftbreit auseinander ging ich in Stellung.

Mein erster Schuss.

„Schulter. Glatter Durchschuss." An der anderen Seite des Fensters lehnte ein junger Mann. Ich kannte ihn. Er war der Freund von Raja, der uns Kaffee versprochen hatte. Ich nickte ihm zu und er ging ebenfalls in Position. Die Schatten strömten durch den Garten, wie eine unaufhaltsame Flutwelle. Wir waren zahlenmäßig völlig unterlegen. Wenn ich wirklich etwas bewegen wollte, durfte ich die Männer nicht nur außer Gefecht setzen.
Ich musste jemanden töten.

Ich hatte noch nie jemanden getötet.

Noch immer waren Mädchen hinter mir im Saal. Man schaffte sie zwar fort, aber die panischen und hysterischen waren schwer einzufangen.

„Wir müssen ihnen mehr Zeit verschaffen", sagte ich zu meinem Gefährten. Er nickte bitter. Zeit verschaffen. Wir wussten beide, was das hieß.

„Es war mir eine Ehre, Sie kennen gelernt zu haben." Wahrscheinlich würden wir es nicht schaffen.

Den nächsten Angreifer traf ich direkt in die Brust. Aber nichts in mir regte sich. Das war kein gutes Zeichen. Der Schock setzte ein. Mein Körper ging in den Notfallmodus.

Das Gewehr hatte bald keine Patronen mehr im Lauf und ich musste es gegen das andere austauschen. Vor dem Fenster waren jetzt die Kämpfe zu hören. Die Garde war in den Garten vorgedrungen, also wusste der König spätestens jetzt von der Situation. Meine Finger zitterten. Das Gewehr glitt durch meine schweißnassen Hände. Kalter Schweiß mischte sich in das Blut, dass aus meiner Seite strömte.

„Fräulein, Ihr müsst gehen." Er war fast noch ein Kind. Um nichts in der Welt würde ich ihn hier zurücklassen. Ich wischte meine Hände an dem schmutzigen Rest meines Kleides ab, legte das Gewehr erneut an, doch meine Sicht verschwamm. Große raue Hände schlossen sich um meine. Jemand betätigte an meiner Stelle den Abzug.
Kopfschuss.
Kopfschuss.
Kopfschuss.

Er ließ mich das Gewehr ablegen, entließ mich aber nicht aus seinen Armen. Stattdessen hob er mich vom Boden, als wäre ich federleicht.

„Az..." Meine Stimme versagte. Der Mann hinter mir war nicht Azrael gewesen. Narvik hatte seine Arme fest um mich gelegt und den jungen Mann überredet, mit uns zu kommen. Wir waren die letzten im Raum gewesen. Wann waren die anderen verschwunden? Mein letzter Blick galt dem toten Mädchen. Sie hatte nichts geahnt. Die Warnung der Prinzen nicht ernst genug genommen, oder schlimmer noch, sie hatte darauf vertraut, dass man sie hier beschützen würde.

Ich bekam nicht mit, wohin Narvik mich brachte, das nächste, was ich bewusst sah, war sein besorgtes Gesicht direkt über mir.
„Scheiße, El." Er hörte sich an wie Lena und ich musste lachen.

„Das ist der Schock. Geh beiseite, wir müssen sie schnellstens verarzten." Überall waren Hände. Sie zerschnitten mein Kleid, wuschen meine Haut, doch ich lachte. Es war alles so surreal. Egal wie oft ich es durchging, egal wie viele geheime Einsätze ich geleitet hatte, ein so direkter Angriff war etwas anderes. Es war so grausam gewesen. So viel unnötige Gewalt.

Zarte, seidige Finger ergriffen meine Hand.
„Kind." Es war die Königin. Irgendwo hinter ihr sah ich Narvik. Armand stand hinter ihm. Er hatte ihn von mir weggeholt. Natürlich. „Du hast mich gerettet." Ihre Augen waren von Tränen erfüllt. Stand es so schlecht um mich? Sie sprach weiter, aber ihre Worte zerflossen zu einem endlosen Fluss aus Buchstaben.

„Sie sieht schrecklich aus." Narviks Stimme. Wie seltsam selektiv das menschliche Gehirn doch sein konnte. „Ist es zu spät?" Er klammerte am Arm seines Bruders. Die stahlblauen Augen waren auf mich gerichtet.

Langsam formte ich die Worte, tonlos, aber er musste sie trotzdem verstehen. Sag es. Wenn es zu spät war, wollte ich es von ihm hören.

„Sie hat viel Blut verloren." In Zeitlupe drehte ich meinen Kopf wieder gerade, starrte an die Decke, ließ das endlose Gebrabbel über mich ergehen. „Wenn die Wunde sich nicht entzündet, hat sie eine Chance."

Wenn, ja, wenn.
Wenn war so ein nutzloses Wort.
Wenn ich älter bin.
Wenn ich reich bin.
Wenn die Welt morgen untergeht...

Die verführerischen Arme der Dunkelheit liebkosten mich. Ich wusste, dass ich nicht das Bewusstsein verlieren durfte. Vielleicht würde ich dann nie mehr aufwachen. Doch ich gab nach, erlaubte mir zu fallen und ließ all den Schmerz hinter mir.

RevolutionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt