Ich hatte meinen Rucksack geschultert, noch bevor Rex meine Zimmertür aufriss. Wie sooft strahlte er übers ganze Gesicht.
„Ist es nicht ein herrlicher Tag?" Er legte mir seine Hand auf die Schulter und es kostete mich einige Anstrengung, mich dieser Berührung nicht zu entziehen. Er führte mich einen Gang entlang, den er mir bei unserem Rundgang gezeigt hatte. Er führte tiefer in den Berg hinein, so dachte ich, aber irgendwann wurde mir klar, dass wir uns gar nicht unbedingt weiter von der Welt da draußen entfernten, sondern dass wir uns einfach nur den steilen Weg über die Berghänge sparten. Wir mussten etwa am Fuße des Berges sein, als Rex meinen Blick durch einen verzweigten Gang auf unzählige gepanzerte Fahrzeuge richtete.
„Willkommen in meinem Spielzimmer", kicherte er beim Anblick meines erstaunten Gesichts, doch er war noch nicht fertig mit den Überraschungen. Er packte mich an beiden Schultern und drehte mich zur anderen Seite des Flurs. „Spielzeug muss man immer gut wegräumen, wenn man lange Freude daran haben will." Ich öffnete die Tür, vor die er mich geschoben hatte und starrte fassungslos in die größte Waffenkammer, die ich je gesehen hatte. Sprachlos trat ich ein und ließ meine Hand über die Gewehre an den Wänden gleiten. Sie waren aufgehängt, wie Trophäen, nicht wie man Nutzwaffen aufbewahren sollte. Er war kein Kriegsherr, er war nicht mal ein Krieger, aber ich ließ ihn meine Verachtung nicht spüren – noch nicht. Der Stein in meinem Magen war seit dem Abend nicht verschwunden und dieses Waffenarsenal machte es nicht leichter für mich, dem Druck standzuhalten. Ich musste einige Male tief durchatmen, bevor ich mich ihm wieder zuwenden konnte.
„Wie hast du es geschafft, an diese Waffen zu kommen?" Ich täuschte Bewunderung vor. Kinder mochten Komplimente. Rex reagierte wie erwartet, seine Brust platzte fast vor Stolz.
„Ich habe einen reichen Gönner auf unsere Seite ziehen können. Er ist sehr spendabel." Ich ging tiefer in die Waffenkammer hinein. Hier hinten waren die älteren Waffen. Waffen, die ihm kein Prestige einbrachten. Ich fand ein Gewehr, dass ich gut kannte. Eine alte Produktion, aber sehr verlässlich. Azrael hatte mir einmal eines geschenkt. Ich nahm es aus seiner Halterung.
„Darf ich?", fragte ich, die Waffe schon in der Hand. Rex verschränkte lachend die Arme.
„Wieso das? Du kannst dir nehmen, was du willst." Er sah über seine Schulter zu den moderneren Waffen. Ich hörte ihm schon kaum mehr zu, stattdessen ging ich eine eingeübte Routine durch; ging sicher, dass keine Patrone im Lauf war, lud durch, nur um zu sehen, ob etwas harkte, drückte den Abzug. Ich kontrollierte Lauf und Schaft auf mögliche Schäden und erst als ich sicher war, dass alles in gutem Zustand war, schnallte ich mir den Gurt um die Schulter. Die passende Munition nahm ich natürlich auch ausreichend mit.Rex schien unzufrieden mit meiner Wahl, doch ich neckte ihn vorsichtig.
„Ich kann mit diesem hier umgehen. Die anderen sind so modern, dass ich sie nur aus Märchen kenne." Ich lachte und er ließ sich schnell besänftigen. Aber ich war noch nicht fertig. Ich steckte mir heimlich Munition für die Pistole ein, die der Junge mir gegeben hatte und Rex zu liebe griff ich noch ein halbautomatisches Gewehr.
„Es ist leicht", stellte ich etwas irritiert fest. Ich hatte über dieses Modell schon einmal mit meinen Männern gesprochen. Beinahe hätten wir eine gestohlene Ladung voll gekauft, aber der Diebstahl war aufgefallen und wir hatten zugesehen, dass wir die Kurve kratzten. Ich hob das Gewehr an meine Schulter. „Der Rückstoß muss übel sein", sagte ich mehr zu mir selbst, aber Rex grinste böse.
„Nur wenn man es nicht gewohnt ist." Ich nickte ihm zu. „Mehr willst du nicht?!" Ehrlich verwirrt sah ich ihn an.
„Ich bin keine Ein-Mann-Armee." Der Anführer zuckte mit den Schultern.
„Sag nicht, ich hätte es dir nicht angeboten." Dann deckte er sich ein. Es war erschreckend wie viele Waffen er sich umhängte, in die Jacke oder den Gürtel steckte. Ich wartete nur noch auf den obligatorischen Revolver im Schuh. Aber bei seinem Versuch, eine menschliche Waffe aus sich selber zu machen, vergaß er eines: Er konnte auf keinen Fall genug Munition für so viele verschiedene Waffenmodelle mit sich schleppen. Ich würde den Teufel tun und ihn auf diesen Fehler hinweisen, also stand ich schweigend in der Nähe der Tür, bis er endlich fertig war.
Er schritt erhobenen Hauptes an mir vorbei und ich lachte fies in mich hinein, kaum dass er an mir vorbei war. Mehr als ein Gewehr auf dem Rücken zu tragen, konnte keine gute Idee sein und Rex war das beste Beispiel warum das so war: Die Gurte seiner Gewehre waren schon dabei, sich zu verdrehen und die Schnallen würden sich über kurz oder lang ineinander verhaken. Ich schürzte meine Lippen und betete still, dass es so kommen möge. Bei all meinen Gebeten in den letzten Tagen, durfte ich mich kaum noch Atheist nennen, aber sollten wir hier alle heile raus kommen, würde ich sowieso anfangen müssen, an eine höhere Macht zu glauben.
Wir traten gerade an eines der Fahrzeuge heran, da öffnete sich eine Tür am anderen Ende des Raumes. Instinktiv hatte ich meine Hand schon am Gewehr, aber Rex gebot mir Einhalt.
„Das ist nur unser Ehrengast." Ich sah, dass die Männer Narvik in ihrer Mitte eingekesselt hatten. Das krustige, längst getrocknete Blut war über sein ganzes Gesicht verteilt, nicht einmal Schuhe hatten sie ihm gegeben. Halb ging er, halb schleiften sie ihn über den Boden. Mein Puls beschleunigte sich und ich spürte meine Lunge rebellieren, aber ich durfte meinen Atem nicht verändern. Rex würde es sofort merken, da war ich mir sicher. Sie schoben Narvik durch die offenen Hecktüren eines gepanzerten Kleinbusses und ich wandte mich ab.
„Sind wir dann soweit?" Skeptisch beäugte mich Rex. Er erwartete noch immer eine Reaktion, doch lieber hätte ich mir beide Hände abhackt, als ihm diese Genugtuung zu geben.
Wir saßen in einem anderen Wagen als Narvik, Rex hatte zusammen mit mir hinten Platz genommen und zwei weitere Männer stiegen zu uns. Dass Rex nicht selber fuhr, überraschte mich für einen Moment, doch dann kam mir der Gedanke, dass er es wahrscheinlich gar nicht konnte. Er hatte es nie lernen müssen, weil immer jemand diese Aufgabe für ihn übernommen hatte. Einer der Männer redete ununterbrochen, während der andere kaum stillsitzen konnte. Ja, sie sahen aus wie Männer, die wussten, wie man kämpfte, aber das änderte nichts an der Situation. Ich sah ihnen beiden kurz ins Gesicht, bevor ich meinen Blick wieder senkte. Es war mehr als wahrscheinlich, dass keiner von uns den heutigen Tag überlebte, egal welche Seite gewann. Ich dachte an Unai und Nour, an Matthes und Raja; und an Sara. Hatte der Junge sie erreicht, hatten sie meine Nachricht bekommen? Hatten sie einen Plan?
Es gab keine Fenster im hinteren Teil des Wagens. Nur zum Fahrer nach vorne konnte man hinaus sehen. Schnee. Nichts als Schnee. Ich stützte meine Stirn auf meine gefalteten Hände. Immer wieder hob ich den Blick, wenn ich eine vermeintliche Veränderung spürte. Schnee. Nichts als Schnee. Der Mann redete immer noch, aber er bekam längst keine Antwort mehr. Ich traute mich nicht, einen Blick auf Rex zu riskieren. War er auch endlich nervös? Oder würde er sich freuen, wie die letzten Tage, weil er keine Zweifel an seinem Sieg hatte? Ich schluckte trocken. Weit konnte es nicht mehr sein, aber ich sah immer noch nichts als Schnee.
Als der Wagen abrupt hielt, griff Rex blitzschnell nach mir. Die Kombination ließ mich so hart zusammenzucken, dass es weh tat. Jeder Muskel hatte sich verkrampft und es war nicht leicht, sie wieder genug zu entspannen, als dass ich mich bewegen konnte. Der redselige Mann war vor einer Weile verstummt und war er bleich wie der Schnee. Der andere wirkte noch farbloser, falls das überhaupt möglich war. Und das sollten die besten Männer dieses Wahnsinnigen sein? Doch dann erinnerte ich mich an die genauen Worte des Jungen. Er hatte nicht seine besten Männer gesagt, er hatte gesagt, sie seien seine Schlausten und vielleicht lag genau da das Problem. Sie konnten ahnen, was uns bevorstand.
Jemand öffnete von draußen die Tür und das grelle, weiße Licht, dass ins Innere drang, blendete mich für einige Sekunden.
„Sie sind gleich hier, Boss." Die tiefe Stimme war mir fremd, es musste einer der Männer sein, die seit Tagen hier in der Kälte ausharrten, um die Umgebung zu sichern. Wir stiegen aus und Rex achtete genauestens darauf, dass ich immer in seiner Reichweite blieb. Ausnahmsweise war ich ihm ein wenig dankbar dafür, denn kein einziger seiner Männer war mir wohlgesonnen. Nicht einen, dem ich wenigstens gleichgültig war, konnte ich ausmachen. Wow. Ich musste ihnen wirklich übel aufgestoßen sein.
Gerade als wir das Fahrzeug erreichten, in dem Narvik sein musste, tauchten die ersten Schatten am Horizont auf. Der König war im Anmarsch. Und mit ihm, seine Armee.
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Revolution
AdventureEleonora "Ellie" fühlt sich als geborene Rebellin. In den Slums, die ihr Zuhause sind, hat sie sich ihren Ruf als Robin Hood hart verdient. Nichts verabscheut sie mehr, als die Monarchie, die ihr Volk ignoriert und verhungern lässt. Doch dann kommt...