Es stimmte, was man über mich sagt. Ich war ausgesprochen dumm.
Wäre ich es nicht, hätte ich damit gerechnet, dass er das Loch schon von selber finden würde. Es war ein bescheuertes Loch in einer Wand! Und wahrscheinlich das einzige in seiner Zelle, das einer näheren Betrachtung lohnte. Ich war nicht auf ihn vorbereitet und erstrecht nicht auf den Schmerz, der sich plötzlich auf seinem Gesicht ausbreitete – soweit ich das sehen konnte.
Minuten vergingen, mein Atem kam stoßweise und langsam wurde mir schwindelig. Dann schloss er das Auge. Ich hörte Ketten klirren. Es war wie ein Startschuss.
Alles, was ich die letzten Tage unterdrückt hatte, überkam mich wie eine Flutwelle.
Schmerz, Wut, Verlust, Trauer und – ja- Liebe.
Langsam sank ich auf alle Viere und kam ihm näher. Zaghaft, ängstlich.
„Azrael", flüsterte ich mit dem letzten Rest Atemluft, so fühlte es sich an. Endlich öffnete er seine Augen wieder. Ich war ihm jetzt so nah, dass er meinen Atem an seinen endlosen Wimpern spüren musste.
„Ich habe dich vermisst, Ellie." Er wusste immer noch, wie man mir das Herz brach. Kämpfend schloss ich die Augen, meine eigene Schlacht gegen die Tränen und all die Worte schlagend.
Das hier war nicht, was ich wollen durfte.
Dann seufzte er und ich gewann meinen Kampf. Für einen Augenblick gab ich mich noch seinen Augen hin. Diesem Blau, das so kalt war, wie der Stahl einer Klinge. Diesem Blau, das heißer brannte, als jedes Feuer. Und schon war es vorbei. Ich schob alles zurück in meine Büchse der Pandora.„Was ist da draußen los, Armand?" Ich wählte diesen Namen bewusst, musste ihn wissen lassen, dass es hier kein wir geben durfte, dass ich nicht mehr war, was er einmal gekannt hatte. Wieder seufzte er und ich verstand, dass er seine eigene Schlacht verlieren würde, wenn er sich nicht bald zusammenriss.
„Da draußen sind Mädchen, Armand. Kandidatinnen! Wie kann das sein?" Wenn er sich nicht zusammenreißen konnte, würde ich das für ihn tun. Ich schürte das Feuer in mir, goss Öl in mein Feuer. Jeder Gedanke, jede mögliche Antwort pumpte mehr Adrenalin durch meine Adern. Wo eben noch Schmerz in mir gewesen war, ja vielleicht Sehnsucht, waren jetzt nur noch Flammen und Rauch. „Armand!" Ich kratzte an der Wand, brach Stücke aus dem Rand des Loches. Endlich verfestigte sich sein Blick. Er hatte vielleicht nicht gegen diese Gefühle gewonnen, aber sich wenigstens eines Besseren besonnen.
„Es ist Javier. Er war es von Anfang an." Für einen Moment schloss Armand seine Augen und irgendwo zwischen all den Brandherden spürte ich ein Ziehen, einen Schmerz, nur weil sich dieses perfekte Blau vor mir verbarg. Ich biss mir auf die Wange.
„Was war er?"
Und dann wurde Armand endlich sachlich. „Javier hat nach eurem Verschwinden gleich das Ruder übernommen. Mein Vater wollte alles unterbrechen und alles daran setzen, Narvik und dich zu finden, aber mein Bruder war anderer Meinung. Er redete meinem Vater ein, dass das ein schlechtes Licht auf die Monarchie werfen würde und das wir einfach weitermachen sollten, als wäre nichts passiert." Mittlerweile hatte ich das Loch ausreichend vergrößert, um sein Gesicht sehen zu können. Lange würde ich es nicht mehr vor den Wachen verstecken können, aber vielleicht war das auch gar nicht mehr nötig. Ich dachte an Javiers Worte. So lange sie noch können. „Mein Vater hat erst wieder übernommen, als Rex sich bei uns meldete", fuhr der Prinz fort. „Er war so außer sich, so blind." Armand hatte versucht seinen Vater aufzuhalten, dass wusste ich besser, als jeder andere. Gebracht hatte es nichts.
„Er hat genau das Gegenteil von dem, was er wollte, erreicht", fiel ich ihm ins Wort. „Er hat sich und seinen Sohn getötet."
Peng. Peng.
Jedes Wort traf wie ein Schuss. Armand zuckte, als hätte ich ihn tatsächlich mit jedem Schuss getroffen.
„Ich glaube..." Er sah zu mir auf, suchte in meinem Gesicht etwas, was ich nicht verstand. Was erwartete er von mir? Ich verharrte reglos. Offenbar nicht das, was er sich gewünscht hatte. „Ich glaube, Javier plant das alles schon sehr lange."
Skeptisch zog ich die Augenbrauen zusammen. „Wie lange?" Es war keine harmlose Frage, es war ein Schwert an seiner Kehle. Noch immer brodelte es unter meiner Oberfläche.
Schuldbewusst sah er mich an. „Seit ich das erste Mal in Mila war."
Kalte Hände legten sich um meine Kehle. Ich erinnerte mich an die Akte in meinem Krankenzimmer. Ich hatte automatisch angenommen, dass Armand mich beschattet hatte, doch nun ging mir ein Licht auf.
„Er hat uns beschattet." Der Prinz deutete ein Nicken an. Er musste immer noch Schmerzen haben, wenn er sich zu viel bewegte. „Also hast du ihm nicht deinen Ring gegeben?", fragte ich zögernd. Erstaunt riss er die Augenbrauen hoch.
„Javier hatte meinen Ring?" Ich nickte. „Ich dachte, ich hätte ihn in Mila verloren." Seine Stimme wurde immer leiser. Ich nickte wieder.
„Ich habe ihn in seiner Jackentasche gefunden. Vielleicht war es absichtlich, vielleicht nicht." Endlich sah er wieder zu mir auf. Etwas zwischen uns hatte sich verändert, dass wussten wir mittlerweile beide, doch langsam aber sicher wurde mir klar, was das war. Armand hatte als Prinz gelernt, seine Gefühle grundsätzlich zurück zu halten, nur bei mir war es ihm möglich gewesen, loszulassen. Ich hingegen hatte meine Gefühle immer auf dem Präsentierteller vor mir hergetragen. Erst jetzt hatte ich verstanden, dass nicht immer alles hinaus musste. Armand vermisste diese Offenheit. Es verletzte ihn, mich so hart zu sehen.
„Javier wünscht sich seit frühster Kindheit, einmal König zu werden." Er seufzte bitter, als er sich erinnerte. „Es hat ihm das Herz gebrochen, als er endlich alt genug war, zu verstehen, dass er erst König werden könnte, wenn ich starb ohne einen Erben zu hinterlassen." Mir kam ein Gedanke.
„Hat sich eure Beziehung danach verändert?"
Verwirrung in seinen Augen. „Nein, nein eigentlich nicht. Wir waren nie so eng gewesen, wie ich es mit Narvik..." Seine Stimme brach ab. Möglicherweise war ich zu streng mit ihm gewesen. Ich hatte keine Geschwister und konnte mir nicht vorstellen, womit er gerade zu kämpfen hatte
„Aber sie hat sich verändert?", bohrte ich vorsichtig weiter, um ihn nicht in die Dunkelheit seines Verlusts abrutschen zu lassen. Es gelang mir, ihn aufzuhalten.
„Es war nicht nur zwischen ihm und mir..." Ich sah ihm an, dass seine Kraft nachließ, aber ich musste ihn weiter bedrängen. Wer konnte schon wissen, ob wir eine zweite Chance kriegen würden, darüber zu reden? „Es war nach einem Bankett. Narvik war endlich alt genug, daran teilzunehmen, ohne dass Mutter rund um die Uhr auf ihn aufpassen wollte." Das Lächeln, das ich in seinem Augenwinkel erahnen konnte, tat weh. Ich war noch nicht bereit, an Narvik zu denken und ich wusste auch nicht, ob ich das jemals sein würde, aber ich ließ den Prinzen sprechen. Es tat ihm sichtlich gut. „Narvik war niedlich, er war witzig ohne jemals taktlos zu sein. Man verfiel seinem Charme ganz selbstverständlich. Javier bekam an diesem Tag sehr wenig Aufmerksamkeit. Wenn ich jetzt daran denke, muss ich ihm sogar zustimmen, es war seinem Stand gegenüber unangemessen, dass man sich lieber mit seinem jüngeren Bruder beschäftigte."
Ich seufzte laut. Das war es also. Prinz Javier war neidisch. Er hatte seinen Vater und jüngsten Bruder sterben lassen und schließlich seinen älteren Bruder weggesperrt, weil er ein eifersüchtiger Kleingeist war.
„Danke." Ich sah Armand ehrlich an. „Danke, dass du so ehrlich zu mir warst." Es stimmte, nach allem, was zwischen uns vorgefallen war, hätte er mir nichts erzählen müssen. Er hätte sich einfach umdrehen können, mit dem Rücken zur Wand schlafen und wir hätten niemals miteinander reden müssen.
„Du musst vorsichtig sein, Ellie. Javier ist noch nicht fertig mit seinem Plan." Sein Gesicht wurde wieder ernst. Hier sprach nicht Armand oder Azrael zu mir, hier sprach ein Freund in ernsthafter Sorge. „Er hat unsere Ringe benutzt, um mich wegen Landesverrat zu verurteilen. Aber er hat dich nicht gleich mit verurteilt." Ich schluckte trocken, bei dem Gedanken, wo das hinführen mochte.
„Er wird kommen und dich holen, Ellie. Da bin ich mir sicher."
DU LIEST GERADE
Revolution
AdventureEleonora "Ellie" fühlt sich als geborene Rebellin. In den Slums, die ihr Zuhause sind, hat sie sich ihren Ruf als Robin Hood hart verdient. Nichts verabscheut sie mehr, als die Monarchie, die ihr Volk ignoriert und verhungern lässt. Doch dann kommt...