Ed stand auf, knallte einen 5er auf die Tischplatte und eilte aus dem Café. Er ließ mich geschockt und schuldbewusst zurück. Ich hätte ihm nachgehen und mich entschuldigen sollen. Oder wenigstens aufhalten. Ich hätte vieles machen können, doch alles wozu ich imstande war, war reglos auf dem Stuhl zu sitzen und auf den Platz zu starren wo Ed eben noch gesessen hatte.
Aber sie war der einzige Mensch der für mich da war, als ich mir das Leben nehmen wollte.
Meine Wut war in dem Moment verpufft, als er mir diese Worte völlig emotionslos zuflüsterte.
Als ich mir das Leben nehmen wollte.
»Wieso wolltest du dich umbringen?«, hätte ich fragen sollen. Er hätte mir den Grund erzählt. Ich hätte genickt und hätte mich entschuldigt. Er hätte mich auf eine Weise angelächelt, die sagte »Ist schon okay, ich bin darüber hinweg«. Wir hätten uns unterhalten, unsere Kaffee getrunken, gelacht. Schließlich hätten wir bezahlt, er hätte mich nach Hause gebracht und wir hätten uns wieder verabredet. Er hätte mich wie früher angelächelt. Und ich wäre in die Wohnung gegangen und hätte vor blinder Freude gegrinst. Hätte Susi und Terry angerufen und mich entschuldigt. Sie wären vorbei gekommen, ich hätte ihnen alles erzählt. Sie hätten meine Klamotten für unser nächstes Treffen ausgesucht. Ich wäre Abends ins Bett gegangen und glückselig in einen traumlosen Schlaf gefallen.
Ich hätte ihn fragen sollen. Doch nun saß ich hier, während die Kellnerin mich besorgt ansah, als sie meine Tasse abräumte, und fragte mich wie ich nur hierher kommen konnte.
Das Leben war nicht perfekt. Es war nicht wie einer dieser alten Hollywood-Streifen, in denen bei jeder Gelegenheit gesungen und getanzt wurde und das Paar am Ende ihr Happy End bekam und lächelnd in den Sonnenuntergang hüpfte. Das Leben war ein manipulatives Arschloch, dass dich im glücklichsten Moment packte, durchschüttelte und anwies gefälligst wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu kommen.
Ich bezahlte und verließ das Café während mir der eisige Wind übers Gesicht blies und mir das Blut ins Gesicht trieb. Ich sprang auf den nächstbesten Bus und fuhr Richtung Sus' Wohnung. Ich musste mich bei ihr und Terry entschuldigen - auch wenn Eds Geständnis meine Gefühlswelt aufwühlte wie nie zuvor, war mein Verstand doch vollkommen klar und dieser sagte mir nun, dass es oberste Priorität hatte zu meiner besten Freundin zu fahren. Außerdem hatte ich ein schlechtes Gewissen gegenüber dessen das ich sie angeklagt hatte und auch wenn sie nichts davon wusste, fühlte ich mich als hätte ich sie hintergangen.
Als ich bei der Wohnung meiner Freundin angelangte, setzte die Dämmerung bereits ein und die Straßenlampen erhellten mit ihrem düsteren Licht die dunklen Gassen und Nischen um das Mehrfamilienhaus. Ich klingelte und wartete bis das Surren des Türöffners ertönte, woraufhin ich in das kühle Treppenhaus trat und hastig die beiden Treppen zum ersten Stock nach oben lief. Als ich dort ankam, klopfte ich und ein paar Sekunden später öffnete mir eine lachende Susi die Wohnungstür. Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck erlosch allerdings und wich einer ernsten Miene, als sie mich sah. Sie musterte mich misstrauisch und fragte: »Was verschafft uns die Ehre? Hattest du niemanden anderes zum ausheulen?«
Das traf mich wie ein Schlag in die Magengrube und ich senkte beschämt den Kopf. Das schlimmste war, dass Sus Recht hatte - sie und Terry waren meine einzigen Freunde (so traurig das auch klingen mochte, vor allem da eine der beiden meine Schwester war).
»Susi! Sei nicht so fies zu ihr, du siehst doch, dass es ihr nicht gut geht!«, rief da plötzlich Terry, die sich an ihrer Freundin vorbei zwängte und einen Arm um meine Schulter legte. »Komm rein, du weißt, dass wir immer für dich da sind«, sagte meine Schwester und brachte mich in die Wohnung. Sie war möbliert in allen verschiedenen Farben, mit Dekorationen aus verschiedenen Ländern und Kulturen, wie einem Didgeridoo aus Australien oder einem blau-pinken Sari aus Indien. Jede Ecke und jeder Gegenstand war mir so bekannt wie mein eigenes Zimmer, da ich hier so viel Zeit verbracht hatte, dass die Wohnung für mich schon wie ein zweites Zuhause geworden ist. Genau wie Sus meine zweite Schwester war.
Ich setzte mich auf die Couch in Patchwork-Optik und sah die beiden Mädchen abwechselnd an. Terry hatte sich neben mich gesagt und immer noch schützend einen Arm um mich gelegt, während Sus mit verschränkten Armen vor dem Sofa stand und mich mit eisernem Blick musterte.
»Leute, es tut mir leid! Ich wollte euch nicht einfach da stehen lassen ohne irgendein Wort wohin ich ging. Ich weiß, dass ihr es gut gemeint habt, indem ihr mir davon erzählt habt und es war auch wirklich gut. Aber ich war in dem Moment einfach stinksauer auf alles und jeden und musste einen klaren Kopf bekommen.« Ich seufzte. »Die Sache ist, dass ich weiß, dass ich nicht die beste Freundin bin die man sich vorstellen kann und ich hätte euch nicht ständig mit meinen Problemen belasten dürfen. Ansonsten wäre mir wohl auch nicht entgangen, dass ihr etwas miteinander hattet. Mir war nur nicht bewusst gewesen, dass Ed nach dieser Zeit noch so einen Einfluss auf mich haben würde.« Ich biss mir auf die Lippe und sah vorsichtig zu Sus auf. Ihre Miene war undurchschaubar, doch da ich sie besser kannte als jeder andere, wusste ich, dass sie nachdachte und abwägte. Sie überlegte ob sie mir dieses eine Mal noch verzeihen würde. Bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, um zu einer weiteren Entschuldigung anzusetzen, bildete sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht, sie kam näher, gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf und sagte: »Du dumme Nuss, als könnte ich dir lange böse sein!«
Ich seufzte erleichternd und erwiderte ihr Grinsen. Doch der Moment verstrich und ich musste an die Worte von Ed denken - der Grund weshalb ich hier war.
»Ich habe mich zwar gerade dafür entschuldigt, dass ich euch ständig mit meinen Problemen - besonders was Ed angeht - belästige, aber ich brauche trotzdem euren Rat.« Ich sah die beiden fragend an. Sus hatte sich auf den Fußboden gesetzt und lehnte ihren Kopf an Terrys Beine. Sie zog eine Augenbraue hoch und sah mich genervt an. Dann lachte sie jedoch und erwiderte: »Na sag schon! Einer der Gründe weshalb du meine beste Freundin bist, ist weil dein Leben viel zerstörter ist als mein eigenes.«
Dafür bekam sie einen Schlag von Terry und mir, gefolgt von einem empörten »Hey!« aus unser beider Münder. Terry und ich sahen uns an und wir lachten. Ich hatte es vermisst mit den beiden zu lachen, auch wenn es nur für einen Tag gewesen war.
»Also gut«, begann ich seufzend und warf Sus noch einen warnenden Blick zu. »Ich habe mich, nachdem ich aus der Wohnung gegangen bin, auf dem Friedhof versteckt. Ich habe dort meinen Frust aus mir heraus geschrien und dann habe ich Ed angerufen und wir haben uns verabredet. Ich habe ihn natürlich zur Rede gestellt doch er behaarte darauf, dass er alles nur für mich getan hatte. Aber ihr wisst wie stur ich bin - ich habe mich nicht erweichen lassen, bis ...« Ich stockte kurz und holte tief Luft. »Ed hat mir gesagt, er habe versucht sich das Leben zu nehmen.«
Ich biss mir auf die Unterlippe und beobachtete die Reaktion der beiden Mädchen. Terry sog scharf Luft an und schlug sich die Hand vor den Mund, bevor sie tröstend einen Arm auf meine Schulter legte.
»Oh Gott Ruby, das ist ja grauenvoll!«, flüsterte sie vollkommen geschockt. Sie hatte Ed geliebt wie einen Bruder, die Nachricht musste sie mitnehmen.
Ich nickte nur traurig, dann sah ich zu Sus. Sie sah mich ausdruckslos an, doch man konnte die Zahnräder in ihrem Kopf förmlich rattern hören.
»Was meinst du dazu?«, fragte ich sie deshalb. Sie hatte eine klare Sicht auf die Dinge, da sie mich erstens sehr gut kannte und zweitens Ed immer misstrauisch gegenüber getreten war. Sie hatte nie besondere Zuneigung aber auch keine Abneigung gegen ihn empfunden. Er war immer ein Anhängsel gewesen, dass sie nicht loswerden würde und deshalb tolerieren musste.
»Weißt du wann das war?«, fragte sie vollkommen sachlich. Der Blick ihrer giftgrünen Augen durchbohrte mich wie hunderte eiserne Nägel.
Ich schüttelte eingeschüchtert den Kopf. »Er hat nichts weiter erzählt, sondern ist sofort aufgestanden und gegangen.«
Ich seufzte und lehnte mich zurück, den Kopf auf Terrys Schulter gebettet. »Wenn ich nur wüsste wieso.«
Sus stand so plötzlich auf, dass Terry und ich uns erschraken, ich den Kopf hob und dabei mit dem Holzschädel meiner Schwester zusammenstieß.
»Au!«, riefen wir beide und rieben unsere schmerzenden Stellen. Sus sah uns jedoch nur mit gerunzelter Stirn an und fing an laut zu lachen. Sie lachte so sehr, dass sie sich am Wandschrank hinter sich abstützen musste um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Terry und ich sahen einander an, auf unseren Gesichtern dieselbe Frage: »Hat sie den Verstand verloren?«
Susi ignorierte jedoch unsere vielsagenden Blicke und saß mittlerweile auf dem Boden, wo sie sich ein wenig beruhigt hatte. Terry und ich saßen derweil noch immer auf dem Sofa und beäugten sie misstrauisch, aus Angst, dass sie gleich einen weiteren Lachanfall erlitt.
Als das jedoch nicht geschah, fragte Terry vorsichtig: »Ähm Sus, was war so witzig?«
Die Angesprochene sah zwischen uns beiden hin und her - sichtlich verwirrt. »Also ist das euer voller Ernst? Ihr kapiert nicht was hier vorgeht?« Sie schmunzelte erneut, riss sich jedoch am Riemen. Was war nur in meine beste Freundin gefahren?
»Gott, seid ihr süß! Also«, sie setzte sich aufrecht hin, Beine gekreuzte, Arme verschränkt, breit grinsend. Ihre Art zu sagen: »Ich weiß etwas was ihr nicht wisst und das ist großartig?«
Terry und ich schnaubten abwartend und sahen sie abwartend an. Sus jedoch genoss den Moment in vollen Zügen, bis sie uns schließlich erlöste, theatralisch seufzte und verkündete: »Ed wollte sich das Leben nehmen, weil er den Schmerz nicht ertragen hat, dich leiden zu sehen. Er hat dich so sehr geliebt, dass es ihm selbst wehtat dich so zerstört zu sehen.«
Ich senkte schnell den Blick, denn es hatten sich Tränen in meinen Augrn gebildet, die drohten meine Wangen herunter zu laufen. Ich hatte schon selbst mit diesem Gedanken gespielt, dass er wegen mir Suizid begehen wollte. Aber das hätte ja bedeutet, dass ich daran Schuld war und diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen.
»Das ist wahnsinnig romantisch, aber denkst du, dass Ed das wirklich machen würde?«, fragte Terry an niemanden bestimmtes gerichtet.
Ich schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! Wie könnte ich dafür verantwortlich sein, dass er sich umbringt? Das ist nichts weniger als grausam«, beteuerte ich.
»Er hätte es getan, weil es seine Schuld war, nicht deine. Schließlich hat er sich verlassen«, gab Sus zu bedenken. Sie rutschte näher zu mir und stützte sich auf meinen Beinen ab. »Warum rufst du Eddi nicht an und redest nochmal mit ihm? Dann erhältst du Klarheit.«
Sie hatte zwar recht - die einzige Möglichkeit diese neu erworbenen Gewissensbisse, Eds Leben auf dem Gewissen zu haben, würden nur verschwinden wenn ich mit Ed redete und er mir sagte ob es wirklich wegen mir war - doch ich bezweifelte, dass er sich noch einmal mit mir treffen wollte. Er war heute Nachmittag so sauer gewesen, dass ich wahrscheinlich der letzte Mensch war den er jetzt sehen wollte.
»Komm schon, Ruby. Schreib ihm einfach 'ne Nachricht. Wenn er nicht will, dann weißt du, dass du ihm nicht so wichtig sein kannst«, ermunterte mich Terry, die geahnt hätte was ich dachte.
»Und wenn er zusagt bedeutet das, er hat wirklich wegen mir den Suizidversuch begangen?«
»Nicht zwingend, aber es wäre möglich«, antwortete Susi ehrlich. Terry hatte den Kopf gesenkt und sah mich entschuldigend an. »Aber du hättest Klarheiten und müsstest nicht weitere Spekulationen anstellen.«
»Ich werde eine Nacht darüber schlafen«, legte ich fest und stand auf. In meinem Kopf schwirrte es wie in einem Bienenstock, ich musste mir Mphe geben nicht das Gleichgewicht zu verlieren und wieder auf die Couch zu fallen.
»Du kannst ruhig hier schlafen«, schlug Terry vor, die mein Schwanken gesehen hatte und es wahrscheinlich auf die Erschöpfung schob.
Ich hatte keine Lust zu diskutieren, deswegen nickte ich nur. Ich hatte zwar morgen Vormittag eine Vorlesung, aber dann müsste ich eben früher aufstehen.
Terry huschte ins Schlafzimmer und holte Bettzeug für mich.
Währenddessen setzte sich Sus neben mich aufs Sofa und sah mich wieder mit diesen undurchschaubaren Gesichtsausdruck an. »Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist, auch wenn er sich wegen deinem Verlust umbringen wollte, oder?«
Ich zuckte die Schultern. »Eigentlich weiß ich gar nichts mehr. Er hat mich in den letzten beiden Tagen schon wieder total durcheinander gebracht, mein Leben auf den Kopf gestellt. Ich bin nicht sicher ob ich bereit bin ihn wieder in mein Leben zu lassen.«
»Du liebst ihn, Ruby. Du solltest alles dafür tun ihn wieder in dein Leben zu lassen. Und das sage ich, obwohl er mir nie sehr and Herz gewachsen ist.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, kam Terry mit einer schrecklichen, geblümten Bettwäsche wieder und warf sie auf das Sofa. Ich fragte mich immer wieder wie Sus' Modegeschmack so klasse sein könnte, sie aber keine Ahnung davon hatte ihre Wohnung geschmackvoll einzurichten.
Terry sah mich entschuldigend an. »Wir haben keine andere.«
Ich nickte nur und breitete Decke und Kissen auf der Couch aus. Sus stand auf, wünschte mir eine gute Nacht, dann ging sie, mit Terry im Arm, ins Schlafzimmer.
Ich legte mich auf das hässliche - aber weiche - Kissen, deckte mich zu und kniff die Augen zusammen. Dank dem Chaos der letzten Tage und dem Schlafentzug nickte ich schnell ein und schlief bis zum Morgen traumlosen durch.
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Everything Has Changed || Ed Sheeran ✔️
Fanfiction»Ich hörte ihn. Ich hörte ihn jeden Tag. Ich schaltete das Radio ein und da war er. Ich schaltete den Fernseher ein und da war er. Ich konnte nicht einmal ins Ausland fahren, ohne ihn zu hören.« Wenn man abserviert wird will man sich eigentlich von...